Neukölln-Komplex gehört zerschlagen

Die Fraktionschefin der Linken im Abgeordnetenhaus, Anne Helm, fordert die Aufklärung der rechten Angriffe

  • Anne Helm
  • Lesedauer: 6 Min.

Feindeslisten, rechte Anschläge und eine Kette von Ermittlungspannen. All das ist seit Jahren in Neukölln alltäglich. Migrant*innen, linke Aktivist*innen, Jüd*innen und junge Frauen, die sich politisch engagieren, werden bedroht, Autos brennen, Privatadressen werden ausfindig gemacht. Jahrelang wurde die Anschlagsserie von Ermittler*innen und Lokalpolitik als Auseinandersetzung zwischen Rechten und Linken abgetan. Inzwischen erleben die Betroffenen, deren Autos zum Teil bereits mehrfach abgefackelt und die Fenster ihrer Privatwohnungen eingeschmissen wurden, dass sie alleine gelassen werden. Nachbarn wollen ihre Autos nicht mehr neben ihnen parken, man macht einen Bogen um sie, um nicht selbst ins Visier zu geraten.

Im vergangenen Jahr wurde ein Datenträger ausgewertet, der belegt, dass ich neben etlichen anderen auf der Feindesliste der Haupttatverdächtigen der Neuköllner Anschlagsserie stand. Überraschend war diese Information für mich nicht. Seit 2013 ahnte ich, dass mein Wohnumfeld von Nazis ausgespäht wurde, dass sie es waren, die meinen Briefkasten aufbrachen und dass das Bedrohungsszenario sehr real war. Darüber hatte ich nun zumindest Sicherheit.

Anne Helm
Anne Helm ist Fraktionsvorsitzende der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Als Politikerin wurde Helm jahrelang von Rechtsextremisten bedroht. In diesem Gastbeitrag legt sie ihre Erfahrungen mit dem Neuköln-Komplex dar.

Und doch laufen die Ermittlungen schleppend. Bei Betroffenen wächst der Unmut, da sich das Gefühl des Alleingelassenwerdens immer mehr manifestiert. Denn was passiert, wenn man sich auf Sicherheitsbehörden, die eigentlich für Aufklärung zuständig wären, nicht verlassen kann? An welchem Punkt sind wir gesellschaftlich, aber auch politisch, wenn dem Ruf nach internen Ermittlungen in der Polizei damit nachgegangen wird, dass Polizeibeamt*innen gegen ihre Kolleg*innen ermitteln?

Lange Zeit wurde der politische Hintergrund der Anschlagsserie, aber auch anderer extrem rechter Straftaten, völlig ignoriert. Mehrere Betroffene wurden nachweislich von Nazis ausgespäht und trotz Kenntnis der Behörden nie gewarnt. Im Juli vergangenen Jahres änderte sich dann auch meine Situation erneut. Seitdem erhalte ich immer wieder sehr explizite Drohschreiben vom sogenannten NSU 2.0, die private Informationen über mich enthalten. Der oder die Täter bedrohen in massiver Weise Frauen und ihre Familien und nutzen dazu Daten, die sie aus Polizeiquellen erhalten haben. Was das für meine Bedrohungslage bedeutete? Laut Landeskriminalamt nichts.

Geholfen hat mir immer die enge Vernetzung mit anderen Betroffenen. Erfahrungen und Beobachtungen auszutauschen kann emotional stützen und die Gewissheit geben, nicht alleine zu sein. Tief beeindruckt hat mich immer das Engagement von Rita Holland, deren Sohn Luke Holland im September 2015 in Neukölln vom Neonazi Rolf Z. ermordet wurde. Zeit ihres Lebens setzte sie sich für andere Hinterbliebene rechten Terrors ein. Vor allem für die Familie Bektaş. Der Mord an Burak Bektaş, der im April 2012 ebenfalls in Neukölln erschossen wurde, ist bis heute unaufgeklärt. Am 21. Oktober 2019 konnte Rita Holland den Schmerz nicht mehr länger ertragen und schied aus dem Leben.

Der Austausch von Informationen und Erfahrungen hilft Betroffenen aber auch, Hinweise zu einem Bild zusammenzusetzen, wie die Rechten agieren und wie sie vernetzt sind. So helfen wir uns auch ganz konkret beim Selbstschutz. Wie bei vielen anderen gehört es seit Jahren zu meinem Alltag rechte Netzwerke zu recherchieren und mir Gesichter und Namen derer einzuprägen, die mich tot sehen wollen.

Die Arbeit von antifaschistischen Recherchenetzwerken ist für unseren Selbstschutz unverzichtbar. Das Vertrauen in die Ermittlungsbehörden hingegen sinkt bei vielen Betroffenen. Dazu tragen die Skandale um rechtsextreme Netzwerke in Bundeswehr und Polizei bei, die Munition zur Seite schaffen und sich auf einen Umsturz vorbereiten, oder Durchstechereien vom Verfassungsschutz an die AfD und andere rechte Strukturen. Aber auch ganz persönliche Erfahrungen. So wird vielen Betroffenen von der Polizei geraten, sie sollten sich nicht mehr politisch äußern und sich aus dem öffentlichen Diskurs zurückziehen um keine Angriffsfläche zu bieten. Ein Verhalten, das schon an Opferverhöhnung grenzt, denn genau dadurch würde ja das Ziel dieses Terrors erreicht. Ein Beamter, der für die Beratung der Betroffenen in Neukölln zuständig war, musste sich selbst vor Gericht verantworten, weil er einen Geflüchteten unter rassistischen Tiraden verprügelte.

Soll man mit der Erfahrung von Datenleaks von Polizeicomputern die Polizei für eine Sicherheitsbegehung in die eigene Wohnung lassen, damit sie Sicherheitsmängel und Einbruchsmöglichkeiten dokumentiert? Dieses Misstrauen wird in einem Abwehrreflex immer wieder als Pauschalisierung und Polizeifeindlichkeit abgetan. Und vor Allem migrantische Betroffene erleben, dass ihre Skepsis sie selbst schon einer kriminellen Energie verdächtig macht. Dabei sind die schwarzen Schafe für Außenstehende schlicht unmöglich zu erkennen. Solange das Problem also nicht strukturell und durch unabhängige Stellen angegangen wird, lässt sich das Vertrauen in die Institutionen nicht zurückgewinnen. Betroffene sind Vertröstungen leid und das zu Recht. Denn es hat nach wie vor den Anschein, dass Ermittlungserfolge ausbleiben und somit rechter Terror entweder nicht Ernst genug genommen wird und genau deswegen weiterhin erfolgreich sein kann. Darüber hinaus hat das Vertrauen in die Berliner Polizei auch gelitten, weil sie den Betroffenen immer wieder vermittelten, gegen sie zu arbeiten.

Politische Forderungen gab es auch von Seiten der Linke in den letzten Jahren zur Genüge. Doch passiert ist wenig. Es wurden Sonderkommissionen errichtet, die retrospektiv in Teilen einer Symbolpolitik glichen. In der Besonderen Aufbaugruppe Fokus (BAO) sollten lose Enden untersucht werden. Abgesehen davon, dass auch dort Sicherheitsbeamt*innen gegen ihre eigenen Kolleg*innen ermittelten, wurden sowohl Zwischen- als auch Abschlussbericht als geheim eingestuft und so einer breiten Zivilgesellschaft nicht zugänglich gemacht. Das ist im Besonderen für die Betroffenen beschämend, denen immer wieder zugesagt wurde, dass Aufklärung höchste Priorität hätte.

Seit langem fordert die Linke einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Leider stehen wir mit dieser Forderung auch innerhalb der Koalition bisher allein da. Dennoch werden wir sie weiter in die nächste Legislatur tragen. Doch was bleibt am Ende, wenn all diese Forderungen scheinbar im Sande verlaufen?

Ein Zeichen der Entsolidarisierung mit Betroffenen rechten Terrors und der Vertrauensverlust in die Politik. Als Linke ist es unsere Verantwortung ein Sprachrohr für Menschen zu sein, die keine Stimme bekommen oder deren Anliegen nicht ernst genommen werden. Daher sehe ich es auch weiterhin als meine Aufgabe an, für Aufklärung zu kämpfen und die strukturellen und ideologischen Ungleichheitsfantasien in Sicherheitsbehörden aufzudecken.

Es dürfen nicht nur linke Recherchenetzwerke und Investigativjournalist*innen sein, die lose Enden miteinander verknüpfen und so weitere Entwicklungen im Neukölln-Komplex und Zusammenhänge aufdecken. Die Einrichtung einer unabhängigen Polizeibeauftragten ist ein wichtiger Schritt der rot-rot-grünen Koalition. Diese Stelle wird nicht alle Probleme lösen, aber sie ist ein Anfang für Menschen, die von Racial Profilig betroffen sind oder auch eine Anlaufstelle brauchen, wenn es Ungereimtheiten bei Ermittlungen gibt. Am 23. Dezember des vergangenen Jahres kam es zu der Verhaftung der beiden Haupttatverdächtigen Tilo P. und Sebastian T. Diese Festnahmen schienen ein kleiner Hoffnungsschimmer bei Betroffenen und Zivilgesellschaft im Kampf gegen den rechten Terror in Neukölln zu sein. Kurz danach kam allerdings P. wieder frei und vor einigen Tagen wurde T. ebenfalls wieder aus der Untersuchungshaft entlassen. Aus den Akten geht hervor, wie sicher sich die Tatverdächtigen auch nach jahrelangen Ermittlungen fühlen. Die Unsicherheit und das Misstrauen bei den Betroffenen hingegen steigen.

Wenn sie sich zurückziehen, wenn Migrant*innen nach dem skandalösen Versagen im Umgang mit dem NSU auch nach dem Anschlag in Hanau frustriert und ungehört zurückbleiben, dann ist der rechte Terror erfolgreich. Und diese Lehre wird zu noch mehr Taten führen. Deshalb muss es endlich als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen werden die rechten Netzwerke zu zerschlagen und die Betroffenen zu schützen.

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