Der schwere Weg zur nationalen Aussöhnung
Libyen ist seit dem gewaltsamen Regime-Wechsel von 2011 Spielball ausländischer Mächte
Libyen versinkt in Gewalt. Nicht nur gibt es zwei Parallelregierungen, die um die Kontrolle kämpfen - beflügelt wird die Gewalt von über 20 000 ausländischen Kämpfern auf beiden Seiten. Während vor allem die Türkei, Katar und Italien die Einheitsregierung von Ministerpräsident Fajis Al-Sarradsch mit Sitz in der Hauptstadt Tripolis unterstützen, erhält der General Khalifa Haftar im Osten Hilfe unter anderem von Russland, Frankreich, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und dem Sudan.
Doch selbst diese Darstellung ist stark vereinfacht und reicht nicht aus, um zu erklären, wie vertrackt die Lage ist und warum Libyen seit dem Sturz des ehemaligen Präsidenten Muammar Al-Ghaddafi im Zuge des sogenannten Arabischen Frühlings 2011 nicht zur Ruhe kommt. Denn: Weder der in Ostlibyen herrschende General Haftar noch die von der UN anerkannte Regierung der Nationalen Einheit in Tripolis haben die volle Kontrolle über die von ihnen beanspruchten Gebiete.
Ihre Macht basiert auf der Grundlage von vielen verschiedenen Stämmen und Milizen, die dem einen oder anderen ihre Loyalität schwören. Zwar sind beide Regierungen darum bemüht, diese Milizen in den Staat zu integrieren, indem man sie etwa mit Uniformen ausstattet und in die offiziellen Streitkräfte aufnimmt. In Wirklichkeit aber konkurrieren diese Gruppen vor allem untereinander, weshalb es im großen Teilen des Landes zu Kämpfen unter Milizen kommt, die eigentlich auf derselben Seite sind. Darunter leidet vor allem die Zivilbevölkerung. So kam es erst vergangene Woche mitten in der Hauptstadt Tripolis zu Kämpfen zwischen Polizeikräften und der Radaa, einer Miliz mit Verbindung ins islamistische Spektrum, berüchtigt für Gräueltaten wie Folter und Entführung von Hunderten Migranten, die über Libyen den Weg nach Europa suchen.
Ein weiterer Streitpunkt ist das Erdöl: Die Einnahmen aus dem Geschäft mit dem Schwarzen Gold sind für beide Seiten unverzichtbar. Während die größten Ölfelder in den Landesteilen unter Kontrolle von General Haftar liegen, hat das letzte noch funktionierende staatliche Erdölunternehmen National Oil Corporation seinen Sitz in Tripolis. Sein Leiter, Mustafa Sanalla, erklärte im Jahr 2019 in einem Interview mit der Zeit, dass die eigene Arbeit erheblich erschwert werde durch Milizen, die um Anteile an den Einnahmen kämpften - vor allem durch jene im Westen des Landes, die gegenüber der Einheitsregierung loyal sind.
Im Dezember 2021 soll es deshalb Wahlen geben, in dessen Folge das Land wieder vereint und damit der Kampf zwischen den verschiedenen Fraktionen beigelegt werden soll. Beschlossen wurden Wahlen als Maßnahme zur Wiedervereinigung zwischen den beiden Regierungen bereits 2015, nachdem General Khalifa Haftar die vorherigen Wahlen im Jahr 2014 für ungültig erklärt und somit den sogenannten zweiten Libyschen Bürgerkrieg ausgelöst hatte.
Ob es jedoch dazu kommen wird, und ob alle - vor allem die Verlierer - sich auch im Nachhinein an die Abmachung halten, ist zu bezweifeln. Die Umsetzung sämtlicher Abmachungen scheitert bereits jetzt. Laut einem durch die UN vermittelten Waffenstillstandsabkommen sollten sämtliche ausländischen Kräfte bis zum 23. Januar 2021 abgezogen werden. Doch passiert ist bislang nichts. Weder die russischen Söldner der Gruppe Wagner im Osten noch türkischen Einheiten, die für die Regierung in Tripolis im Einsatz sind, haben ihre Zelte abgebrochen. Im Gegenteil, erst vergangene Woche wurden mehrere Reisebusse gesichtet, die syrische Kämpfer an die Front aufseiten Haftars transportieren. Syrische Söldner findet man übrigens auf beiden Seiten: Für die Einheitsregierung kämpfen vor allem Männer aus der letzten Rebellenhochburg Idlib; sie gelangen über die Türkei ins Land. Für Haftar sind Männer aus den von Präsident Baschar al-Assad kontrollierten Gebieten im Krieg. Während eine von Haftar im April 2019 angelegte Großoffensive auf Tripolis gescheitert ist, verläuft die Front zwischen Ost und West mittlerweile vor Sirte, der Heimatstadt Muammar Al-Ghaddafis in Zentrallibyen.
Doch selbst wenn es zu einem Abzug der ausländischen Kräfte und zu Wahlen kommt, stellt sich die Frage: Wer könnte diese gewinnen und das Land vereinen? Als ein möglicher Kandidat gilt Aguila Saleh, bislang Parlamentspräsident des Repräsentantenhauses in Tobruk. Während er keiner Partei angehört, werden ihm jedoch enge Verbindungen zu General Khalifa Haftar nachgesagt. Aber auch ein anderer, alter Bekannter hat Interesse am Präsidentenamt angemeldet: Saif Al-Islam Al-Gaddafi, Sohn von Muammar Al-Ghaddafis, der nach mehr als fünf Jahren Haft wieder auf freiem Fuß ist. In einem Interview mit dem russischen Sender Sputnik im Jahr 2017 ließ sein Anwalt verkünden, Saif Al-Islam Al-Gaddafi sei »Libyens einzige Hoffnung«.
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