»Teddy« in der Bredouille
Ronald Friedmann rollt anhand neu aufgefundener Akten die Wittorf-Affäre der KPD von 1928 neu auf
Unerhörter als ein unerhörter Vorgang selbst ist oftmals dessen unerhörtes Nachleben. Beispiel: die sogenannte Wittorf-Affäre 1928. Ein neues Licht auf diese wirft die Auswertung eines Konvoluts von Akten, die bis 2018 in einem Panzerschrank im Keller des Karl-Liebknecht-Hauses, Sitz des Parteivorstandes der Linkspartei, schlummerten. Ronald Friedmann hat sie akribisch studiert und nunmehr veröffentlicht. Dem Mitglied der Historischen Kommission der Linken geht es darum, das Geflecht aus Halbwahrheiten, Lügen und Legenden zu zerfetzen, das sich um eine Unterschlagung von Parteigeldern rankte und rankt, die geschichtsrelevant vor allem durch die Verstrickung des Parteivorsitzenden Ernst Thälmann wurde.
Eine maßgebliche Rolle spielten auch seinerzeit die Medien. »Krach bei den Kommunisten«, »Thälmann nicht mehr Parteiführer«, »Thälmann kaltgestellt« lauteten die sensationsheischenden Schlagzeilen in deutschen Tageszeitungen. Die SPD-nahe »Leipziger Volkszeitung« vermeldete am 27. August 1928 bösartig-gehässig wie zynisch-schadenfroh, dass »eine allmächtige Kreatur Thälmanns namens Wittorf und der große Thälmann selbst im Laufe der letzten Jahre regelmäßig ›Darlehen‹ aus der Parteikasse entnommen« hätten »und natürlich, wie es sich für so große ›Revolutionäre‹ gebührt, ›vergaßen‹, sie zurückzuzahlen.« Es war die hohe Zeit des »Bruderzwistes«. Dem Antikommunismus rechter SPD-Führer schleuderten die Kommunisten die von Moskau vorgegebene, exakter: bereits 1924 von Grigori Sinowjew, dem Vorsitzenden der Kommunistischen Internationale (Komintern), formulierte »Sozialfaschismus«-These entgegen, welche die Sozialdemokratie als »linken Flügel des Faschismus« diskreditierte.
Die Meldung in der LVZ, so Friedmann, enthielt »keinerlei Beleg oder auch nur weiterführende Details« für die Behauptung, dass der KPD-Vorsitzende, Ernst Thälmann, und der Politische Sekretär des Parteibezirks Wasserkante, John Wittorf, in krimineller Absicht unter einer Decke gesteckt hätten. Sie sei zudem ohne mediales Echo geblieben. Damit widerspricht Friedmann dem Mannheimer Historiker und Nestor der westdeutschen Kommunismusforschung Hermann Weber, der die LVZ als jenes Medium benannt hatte, dass den Skandal publik gemacht habe. Im Gegenteil, es seien kommunistische Blätter gewesen, die dies offensiv taten.
Im K-L-Haus, Sitz der Zentrale der KPD, war seit Wochen bekannt, dass es in Hamburg einen schweren Fall unrechtmäßiger Entwendung von Parteigeldern gegeben hat. Am 8. August 1928 lag Hugo Eberlein, Mitglied des Politbüros, sowie Artur Golke, ZK-Mitglied und Hauptkassierer der Partei, ein Revisionsantrag aus Hamburg vor. Die darauf folgenden Befragungen ergaben letztlich, dass Wittorf mindestens 1850 Reichsmark aus der Parteikasse »privatisiert« habe. Die Brisanz der Enthüllung bestand darin, dass es es sich beim Delinquenten nicht nur um einen Spitzenfunktionär der KPD in Hamburg, sondern zugleich um ein Mitglied des ZK und Vorsitzenden der kommunistischen Bürgerschaftsfraktion der Hansestadt sowie um einen Kandidaten für den Reichstag handelte. Und bei dem entwendeten Geld um Wahlkampfhilfe aus der Sowjetunion, vermittelt über deren Hamburger Handelsvertretung. Was man freilich zunächst nicht an die große Glocke hängen wollte, respektive der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt werden sollte. Gleichwohl deutsche Behörden, so das Auswärtige Amt, sehr wohl wussten, dass die KPD finanziell von Moskau unterstützt wurde, wie Friedmann anmerkt.
Das eigentliche Dilemma: Bis der Fall in seiner ganzen Tragweite aufgeklärt ward, sind Monate vergangen, die viel Unerquickliches, Unerfreuliches, Unangenehmes zutage förderten. Nur scheibchenweise kam die Wahrheit ans Licht - aus falsch verstandener Parteidisziplin wie aus Feigheit, Skrupellosigkeit und Eigennutz. So haben drei hauptamtliche Hamburger Funktionäre, Willy Presche, Ludwig Riess und John Schehr, zwar schon frühzeitig von dem Vorgang erfahren, aber Schweigen vereinbart, um Schaden von der Partei abzuwenden.
Ironie der Geschichte: Der Verursacher des Skandals hat die Untersuchungen, die schließlich zu seiner Entlarvung führten, selbst in Gang gebracht. Um von sich abzulenken, beschuldigte Wittorf einen Genossen, Hugo Dehmel, im August 1927 an die 1500 Mark unterschlagen zu haben, die für den Wahlkampf zu den Bürgerschaftswahlen im Oktober des Jahres gedacht waren. Der zu Unrecht Beschuldigte verwahrte sich umgehend in einen Brief, den Wittorf und Schehr indes unter Verschluss nahmen. Nunmehr verhielt sich auch Dehmel äußerst unklug, war selbst schuld daran, dass der Verdacht gegen ihn weiter waberte, sogar neue Nahrung erhielt, so Friedmann. Als Kassierer der KPD-Bezirksleitung Waterkant abgesetzt und aus der Partei ausgeschlossen, unterschlug dieser nun tatsächlich Gelder aus der Parteikasse in Höhe von 3060 Mark, mit Verweis darauf, dass er sich eine neue Existenz aufbauen müsse.
Es mag verwundern, dass die aus heutiger Sicht »lächerlich« erscheinenden Summen (man denke an die »Peanuts«, die Deutschbanker oder Bundesminister an Steuergeldern abzweigen oder durch den Schornstein jagen) damals für eine eklatante Krise einer Partei sorgten. Allerdings stand der KPD solch Gebaren wahrlich schlecht zu Gesicht, widersprach es doch deren Selbstverständnis, uneigennütziger und aufrichtiger Sachwalter der Armen, Ausgebeuteten, Unterdrückten und Entrechteten zu sein. In den Augen der Arbeiter wog moralisches Fehlverhalten der Kommunisten naturgemäß schwerer als bei Vertretern der politischen und ökonomischen Eliten, deren Selbstbedienungsmentalität damals wie heute kaum überrascht.
Friedmann rekonstruiert detailliert die verschiedenen Treffen und Beratungen in der Causa Wittorf, zitiert aus Dokumenten und Briefen und publiziert im Anhang die neu aufgefundenen Dokumente, einige auch im Faksimile. Am 1. Mai 1928 wurde Thälmann zunächst, »so weit wie möglich«, über die angebliche Unterschlagung Dehmels informiert. Am Abend des 20. Mai, am Tag der Reichstagswahl, zu denen er in Hamburg auf Listenplatz 1 kandidiert hatte, wurde ihm der wahre Übeltäter offeriert. Nach mehrstündigem Leugnen gestand Wittorf in einem vertraulichem Gespräch in kleiner Runde seine Schuld ein. Friedmann, der sich in persönlichen Urteilen über die Charaktere der Beteiligten vornehm zurückhält, referiert die zeitgenössischen Einschätzungen, die Wittorf einen »zweifelhaften privaten Lebenswandel« und »exzessiven Alkoholkonsum« bescheinigen. Generell offenbart der Autor und Herausgeber Einfühlungsvermögen und weitgehend Verständnis für Reaktionen seiner Protagonisten. John Schehr etwa, der anfangs an der Vertuschung der Wittorf-Affäre beteiligt war, sei laut Auskunft seiner Frau »bei dieser Angelegenheit völlig zusammengebrochen«, habe - vom Gewissen geplagt - sogar Selbstmordabsichten geäußert. Bezüglich Thälmann hingegen wagt Friedmann ein eigenes Urteil, das wenig schmeichelhaft für die Galionsfigur der Kommunisten ausfällt. Aus Gründen einer »zweifelhaften Parteiräson« habe er »ohne jeden Skrupel das Leben eines Menschen zerstört, der sich voll und ganz der KPD und der kommunistischen Bewegung verpflichtet hatte«: »Er wusste, dass Hugo Dehmel unschuldig war. Trotzdem ließ er zu, dass er von den eigenen Genossen als Krimineller behandelt wurde.« Thälmann beschimpfte diesen gar öffentlich als »Schuft« und »Gauner«. Worte, die man aus seinem Munde nicht über seinen langjährigen Freund Wittorf vernahm.
Andererseits nimmt Friedmann den KPD-Vorsitzenden in Schutz, insbesondere gegen Anwürfe nachgeborener Historiker. Vom 25. bis 27. September 1928 hatten sich das Politbüro und das ZK mit dem Fall Wittorf beschäftigt. Im Ergebnis wurde dieser aus der KPD ausgeschlossen. Thälmann wiederum wurde vorgeworfen, Korruption geduldet oder zumindest den Verdacht nicht überzeugend ausgeräumt zu haben. Der Parteivorsitzende erklärte, seine Funktion bis zur endgültigen Klärung des Falles ruhen zu lassen. Thälmann war also nicht »abgesetzt« worden, wie immer wieder fälschlich kolportiert worden ist, betont Friedmann.
Der Berliner Historiker und Journalist konzediert aber auch, dass die innerhalb der KPD und der Komintern als »Versöhnler« stigmatisierten Spitzenfunktionäre um Arthur Ewert, Hugo Eberlein und Gerhart Eisler, die Zielscheibe massiver innerparteilicher Attacken der Gruppe um Thälmann mit Moskauer Rückendeckung waren, in der Hamburger Affäre »eine unterwartete Möglichkeit sahen, die Machtverhältnisse in der Führung der KPD zu verschieben«. In einem Brief vom 30. September an Nikolai Bucharin, seit 1926 Chef der Komintern, begründete Eberlein, die Affäre gebe nicht nur der SPD »eine furchtbare Waffe gegen uns in die Hand«, sie errichte zudem zwischen der KPD, Sympathisierenden und sozialdemokratischen Arbeitern »eine unübersteigbare Mauer«. Deshalb müssten »rasch, offen und energisch die schärfsten Maßnahmen« erfolgen.
Nach Friedmann ging es den angeblichen »Versöhnlern« jedoch nicht darum, Thälmanns von Moskau sanktionierte Führungsrolle grundsätzlich infrage zu stellen, sondern darum, ihm eine Lehre zu erteilen. Viele Parteimitglieder hätten seit geraumer Zeit Unzufriedenheit mit dessen Leitungsstil geäußert, sich über selbstherrliche Entscheidungen und Kritikresistenz beschwert sowie Unverständnis darüber artikuliert, dass Thälmann mitunter mehrere Wochen aus Berlin »verschwand ohne sich um die Angelegenheiten der Partei zu scheren«. Es ging nicht um einen politischen Kurswechsel, beharrt Friedmann, schon gar nicht darum, den in der Arbeiterschaft populären, liebevoll »Teddy« genannten Parteivorsitzenden zu »stürzen«. Weshalb es nicht des Eingreifens seitens des Kremlherrn Josef W. Stalin bedurfte, um Thälmann zu »retten«, wie in der Literatur, auch linker Provenienz, oft suggeriert.
Die Ereignisse frönten ein böses Nachleben in der DDR, instrumentalisiert nicht nur während der »Parteisäuberungen« in den 50er Jahren. Friedmann verweist auf den zweiten, nie veröffentlichten Band der parteioffiziellen »Geschichte der SED«, der in der Umbruchszeit 1989/90 unterging. Darin habe sich noch immer die Behauptung befunden, Opponenten Thälmanns hätten die Wittorf-Affäre nutzen wollen, um »mit fraktionellen Methoden die Führung der Partei an sich zu reißen«. Friedmann schreibt: »Sie war auch nicht das von Hermann Weber und Bernhard B. Bayerlein zum ›Thälmann-Skandal‹ verklärte Schlüsselereignis für die Stalinisierung des deutschen, in gewissem Ausmaß auch des internationalen Kommunismus.« Offenkundig wird bei der Lektüre ebenso, dass Friedmann in seiner Darstellung teils andere Akzente setzt als seine Zunftkollegen Elke Reuter, Wladislaw Hedeler, Horst Helas und Klaus Kinner in ihrem Band »Luxemburg oder Stalin? Schaltjahr 1928« (2003).
Am 6. Oktober 1928 kritisierte das Exekutivkomitee (EKKI) der Komintern in einer Resolution zwar das zögerliche Verhalten Thälmanns bezüglich der Korruption als einen »ernsten Fehler«, forderte fatalerweise - entsprechend ihrem zentralistischen Verständnis - aber auch, »alle fraktionellen Gruppierungen in der Partei zu liquidieren«. Das oberste Gremium der KI mahnte, keine Verschärfung der innerparteilichen Auseinandersetzungen zuzulassen - »was von Thälmann uns seinen Anhängern in den Wind geschlagen wurde«, wie Friedmann bemerkt. Die EKKI-Resolution wurde als »Freibrief für eine politische und organisatorische Abrechnung genutzt«. Es ging nun auch gegen Heinrich Brandler, der 1923 Mitglied einer Koalitionsregierung mit der SPD in Sachsen war, sowie den Parteiintellektuellen August Thalheimer, die beide als »Rechte« diffamiert und ausgegrenzt wurden, woraufhin sie zu Jahresende die Kommunistische Partei Opposition (KPO) gründeten.
Die Akten, die Friedmann für diese einzigartige, faktenpralle Dokumentation auswertete, stammen - so seine Vermutung - aus dem Nachlass von Hugo Eberlein. Sie waren offenbar 1951 von dessen Sohn Werner Eberlein dem ersten und einzigen Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, der 1928 mit den »Versöhnlern« sympathisiert hatte, übergeben worden. Anlass hierfür, so Friedmann, könnte eine in »Neues Deutschland. Zentralorgan des Zentralkomitees« veröffentlichte, von der SED-Führung unter Walter Ulbricht (der 1928 zur Fronde wider die »Versöhnler« gehört hatte) erzwungene, entwürdigende Selbstkritik von Gerhart Eisler gewesen sein, die der weiteren Ikonisierung Thälmanns dienen sollte.
Dankenswerterweise gibt Friedmann abschließend auch Auskunft über das weitere Schicksal seiner Protagonisten. Dehmels Spur verliert sich im Dunkel der Geschichte, Thälmann wurde 1944 im KZ Buchenwald ermordet, Eberlein und Golke wurden Opfer Stalinschen Terrors. Wittorf, der sich nicht mehr politisch betätigte, starb 1981 in Hamburg. Eine mahnende Lehre bleibt die mit dessen Namen verbundene Affäre allemal.
Ronald Friedmann (Hg.): Was wusste Thälmann? Unbekannte Dokumente zur Wittorf-Affäre. Karl Dietz, 183 S., br., 16 €.
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