Schlagabtausch im Gerichtssaal

Alexej Nawalny wirft der russischen Justiz vor, dass das Verfahren gegen ihn politisch motiviert sei

  • Ute Weinmann, Moskau
  • Lesedauer: 4 Min.

Ob Alexej Nawalny die kommenden Jahre in Haft bleibt, wollte am Dienstag das zuständige Gericht in Moskau erst am Abend entscheiden. Mit einer Freilassung des nach seiner Rückkehr aus Berlin im Januar festgenommenen Oppositionspolitikers rechnete niemand. Im Kern ging es bei der gestrigen Verhandlung um einen Antrag der Justizvollzugsbehörde, die aufgrund von Verstößen gegen Bewährungsauflagen die Umwandlung eines Urteils wegen Betrugs vom Dezember 2014 in eine dreieinhalbjährige Haftstrafe gefordert hat. Im Übrigen kam der Europäische Menschenrechtsgerichtshof 2017 zu dem Schluss, dass Nawalnys Recht auf ein faires Verfahren nicht gewährleistet war, und hielt den Anspruch auf Entschädigung für gegeben. Russland ließ sich zwar auf die Geldzahlung ein, hob jedoch das Urteil nicht auf.

»Die Hauptsache an diesem Prozess besteht nicht darin, wie er endet«, meldete sich Alexej Nawalny aus dem Glaskasten für Angeklagte zu Wort. Vielmehr richte sich die Botschaft an andere. »Einer wird verhaftet, um Millionen einzuschüchtern.« Die Verhandlung fand im Gebäude des Moskauer Stadtgerichts statt, das zuvor mit einem massiven Polizeiaufgebot weiträumig abgeschirmt worden war. Dort herrschte de facto ein regelrechter Ausnahmezustand. Noch vor einer längeren Verhandlungspause gegen Mittag wurden bereits etwa 230 Personen festgenommen, darunter zahlreiche Journalisten, aber auch Passanten. Ausweiskontrollen fanden selbst am Ausgang aus der nahe gelegenen Metrostation statt, Busse und Straßenbahnen hielten im Umkreis des Gerichts nicht mehr an.

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Immer wieder betonte der Vertreter der Justizvollzugsbehörde, dass Nawalnys konkreter Aufenthaltsort nicht bekannt gewesen sei, obwohl er selbst zugeben musste, dass die Adresse des Oppositionellen durchaus vorlag. Nur überprüft habe die Information niemand und selbst nahe Angehörige wurden nicht kontaktiert. Als er sich in Widersprüche verwickelte, kam die Staatsanwältin zu Hilfe, um nach der richtigen Formulierung zu suchen. Die Position der Anklage besteht darin, dass Nawalnys Behandlung mit Verlassen der Charité am 23. September beendet gewesen sei. Nawalnys Verteidiger wiederum legte eine Bescheinigung der Berliner Charité vom 15. Januar vor, in der Nawalny nach seiner Vergiftung behandelt worden war. Daraus lässt sich entnehmen, dass seine Behandlung faktisch erst Mitte Januar beendigt war und Nawalny hätte sich, so der Verteidiger, nach seiner Rückkehr unmittelbar bei den Polizeibehörden gemeldet. Das aber sei durch die Festnahme unterbunden worden.

Mit der Staatsanwältin lieferte sich Nawalny im Gerichtssaal einen längeren Schlagabtausch. Er bestand auf dem politischen Hintergrund seiner Aburteilung und sah sich dem Vorwurf der Richterin ausgesetzt, selber Politik im Gerichtssaal zu betreiben. Doch fällt es nicht nur angesichts zahlreicher Missachtungen rechtlicher Grundsätze seitens der Strafverfolgungsbehörden schwer so zu tun, als handele es sich bei dem Umgang mit einem missliebigen Oppositionellen um eine rein juristische Angelegenheit. Nawalny hat mit seinem Antikorruptionsprogramm einen Nerv selbst in Teilen der Bevölkerung getroffen, die noch vor wenigen Jahren keinerlei Interesse für Politik zeigten. Über eine Million Mal innerhalb einer Woche wurde sein Video über ein riesiges Anwesen mit über einer Milliarde Euro Baukosten an der Schwarzmeerküste angeklickt, das für Präsident Wladimir Putin errichtet worden war. Auch wenn sich später Putins enger Vertrauter Arkadij Rotenberg als Eigentümer geoutet hat, ändert das nichts an der Tatsache, dass die enorme Schere zwischen Reich und Arm in Russland auf steigende Empörung trifft.

Am Sonntag protestierten wie in der Woche zuvor Zehntausende im ganzen Land für Nawalnys Freilassung. Sie alle pauschal als seine Anhänger einzuordnen, wäre indes verkehrt. Die Menschen gehen weniger für Nawalny auf die Straße, sondern gegen die herrschenden Machtverhältnisse. Daraus erklärt sich auch das harte Durchgreifen der Polizeibehörden. Im ganzen Land kam es zu mehr als 5700 Festnahmen, darunter auch über 90 Medienvertreter. Während sich die Protestierenden weitaus passiver verhielten als die Woche zuvor, setzten Angehörige von Sondereinheiten Schlagstöcke, Tränengas und stellenweise sogar Blendgranaten ein. Wahllos griffen sie Einzelne heraus. Polizeiwachen und Einrichtungen für die Verbüßung von Administrativhaft sind in Moskau und St. Petersburg komplett überfüllt. Festgenommene werden teilweise in benachbarte Regionen gebracht.

Nawalny pokert hoch, sein Team ist ebenfalls Strafverfolgung ausgesetzt und befindet sich teilweise unter Hausarrest. Aber die vergangenen beiden Protestwochenenden gaben ein Bild wieder, das wenig zu tun hat mit der viel gepriesenen Stabilität in Russland. Ex-Premierminister Dmitrij Medwedjew erklärte am Montag, Russland sei bereit, sich vom globalen Internet loszulösen. Zugeständnisse, so das Signal aus dem Kreml, wird es keine geben. Das Problem wachsender sozialer Ungleichheit und politischer Willkür bleibt dafür weiter bestehen. Deshalb ist mit einem Ende der Proteste nicht zu rechnen.

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