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Der nette alte weiße Mann
In Japan kann man ältere Männer fürs Zuhören mieten. Die Firma »Ossan rentanu« will so den gesellschaftlichen Ruf eines ramponierten Standes polieren.
Wenn Takanobu Nishimoto aus dem Haus geht, ist er frisch geduscht, trägt schicke Klamotten und versucht alles, damit er seiner Kundin gefällt. Es könnte sich zwar auch um einen Mann handeln. »Aber zu 80 Prozent buchen mich schon Frauen«, erklärt der jung gebliebene Herr mit welligem, grau meliertem Haar. »Meistens beginnt es etwas verhalten, die Nervosität spielt am Anfang immer mit.« Doch wenn der Profi übernimmt, bricht das Eis. »Wie kann ich helfen?«, fragt Nishimoto in der Regel zu Beginn. Und dann geht es los.
Im Komplettpaket vermietet sich Nishimoto für nur 1000 Yen die Stunde, umgerechnet sind das kaum acht Euro. Schon dieser Preis verrät, dass Takanobu Nishimoto nicht etwa das anbietet, woran man jetzt denken könnte. »Ich lasse mich auf keinen Fall auf Sex ein!«, sagt der 53-jährige per Videochat und kneift kopfschüttelnd seine Augen zusammen. »Das wäre ja fatal für das ganze Vorhaben.« Und wenn Nishimoto von seinen Mitstreitern etwas Gegenteiliges mitkriege, schmeiße er den entsprechenden Dienstleister raus. »Dafür ist ein Ossan nicht da.«
Ossan, Kurzform von Ojisan, übersetzt sich ins Deutsche mit Onkel. Im japanischen Sprachgebrauch aber werden so generell Männer bezeichnet, die ihre Jugendblüte schon hinter sich haben und das Greisenalter noch vor sich. Nicht selten verwendet man den Begriff despektierlich, in etwa entsprechend zur im Deutschen üblich gewordenen Zuschreibung des »alten weißen Mannes«: also jemand, der durch Alter, Geschlecht und andere Eigenschaften Privilegien genießt und diese mal unfair, mal anrüchig auszunutzen versucht. »Unser Ansehen ist heutzutage nicht besonders gut«, sagt Takanobu Nishimoto.
Mit der Agentur »Ossan rentaru« - auf Deutsch: Onkelvermietung - arbeiten Takanobu Nishimoto und rund 60 weitere Herren mittleren Alters gegen die Vorurteile an. Kurz gesagt: Vor allem in Japans Hauptstadt Tokio vermieten sie sich, damit sich die Kunden und Kundinnen ihren eigenen Eindruck von einigen dieser im ostasiatischen Land berüchtigten Onkel machen können. »Auf unserer Website sind wir alle mit Foto und Profil aufgelistet. Da kann man sehen, womit sich jeder von uns auskennt und wie wir so sind.« Und da kann man auch gleich ein Treffen reservieren.
Für mindestens eine Stunde sind die Onkel buchbar. In der Regel werden daraus unverbindliche Herzausschüttungen oder Beratungsgespräche. So fragten Frauen in ihren 30ern häufig um Rat bei Heirats- oder Karriereplänen. Mütter in ihren 40ern klagten öfter darüber, dass sich der Ehemann nicht für die Kinder interessiere. Und Kundinnen jenseits der 50 suchten nicht selten nach neuen Kontakten. »Meistens treffen wir uns im Café, derzeit natürlich eher zum Spazierengehen oder per Videochat«, so Nishimoto. »In normalen Zeiten geht es am Abend auch in einer Kneipe. Aber da ist es streng verboten, den Gast zum Trinken zu animieren.« Dieser Ruf eile den Ojisan nämlich voraus.
Kampf gegen das Klischee
Bei den in Japans Berufsleben häufigen Trinkgelagen klagen vor allem junge Frauen nicht selten, dass sie von männlichen Mitarbeitern mit steigendem Alkoholpegel zunehmend plump angemacht werden. Der Begriff »sekuhara«, eine Japanisierung der englischen Bezeichnung für sexuelle Belästigung (sexual harrassment) ist seit Jahren ein viel diskutiertes Thema im Land. Schließlich haben es Frauen auf dem Arbeitsmarkt bis heute schwer.
Nach dem »Gender Gap Report« des World Economic Forums, das Gleichstellung der Geschlechter auf den Ebenen Politik, Arbeitsmarkt, Bildung und Gesundheit vergleicht, landet Japan seit Jahren weit hinten. Zuletzt lag Japan von 153 Ländern auf Platz 121, direkt hinter Benin und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Zwar schließen Frauen ähnlich häufig ein Universitätsstudium ab. Im Jobleben aber investieren Arbeitgeber auch weniger ins Humankapital von Frauen - häufig in der Erwartung, dass diese bei der Geburt eines Kindes ohnehin aus dem Beruf ausscheiden würden.
An den Schalthebeln, wo solche Ungleichbehandlungen beschlossen werden, sitzen fast immer Männer, die zumindest ein mittleres Alter erreicht haben. Hinzu kommt auch das durch Pornografie befeuerte Klischee, besonders viele erwachsene Herren hegten Fantasien von jungen Frauen in Schuluniformen. So stehen in Zeiten, in denen auch in Japan junge Menschen altmodische Rollenbilder zusehends hinterfragen, gerade die gestandenen Männer oft unter Verdacht.
Takanobu Nishimoto hat vor neun Jahren mit seiner Idee der Selbstvermietung begonnen. »Ich wollte den Menschen zeigen, dass man sich nicht vor Ossans fürchten muss, nur weil sie Ossans sind. Und dass wir auch zuhören können. Dass wir nette Typen sind!« Der gelernte Stylist hat über die Jahre ordentlich Zulauf von Männern erhalten, die sich dem Projekt anschließen wollten. Denn während einerseits Herren mit guten Absichten das Ansehen von Menschen wie sich selbst verbessern helfen, profitieren andererseits auch die überwiegend weiblichen Kunden vom Angebot.
Gerade im Coronajahr ist die Sache der Männervermietung beliebt geworden. Der populäre TV-Kanal ANN berichtete schon im Sommer in einem längeren Beitrag, dass die Onkel, die nun häufiger benötigten Aufgaben von Psychologen übernehmen. Ohne professionelle Ausbildung zwar, dafür aber mit »einem starken Willen«, wie die Reporterin berichtete: »Seit der Ausbreitung von Corona gibt es so viele neue Dienstleistungen von Restaurants und Bars, durch die das Leben für die Menschen ein bisschen weniger unangenehm gemacht werden soll. Aber eine Seelsorge leisten vor allem diese Männer.« Kurz darauf spricht sie mit einem lockeren, grinsenden Herrn namens Takanobu Nishimoto.
Auch in sozialen Medien sind die Ossans ein Phänomen geworden. Und wenn es zu Interviews kommt, schickt der Gründer Nishimoto zusehends seine Mitarbeiter vor. So finden sich etwa auf Youtube längst mehrere Beiträge zum Thema, mit den Erfahrungsberichten mehrerer Ossans. Zum Beispiel auf dem Kanal Maakedai, der sich vor allem Innovationen aus dem Internet widmet. Darin probieren drei junge Frauen einen Videocall mit einem Ossan namens Wakui aus. Eine Frau fragt den Herrn mit höflichen Floskeln: »Ich bin jetzt in der zweiten Hälfte meiner 20er. Gibt es auch Frauen in meinem Alter, die sich einen Onkel wie Sie mieten?« Herr Wakui nickt und erklärt: »Das ist überhaupt nicht unüblich. Ich treffe mich immer wieder mit jüngeren Frauen.« Da gehe es dann um alles Mögliche: Streit mit den Eltern, mit dem Freund, auch um Probleme in der Uni.
Eine weitere Frage: »Hatten Sie mal einen Termin, der Sie an Ihre Grenzen gebracht hat?« Und der Ossan antwortet: »Naja, auf eine Weise schon. Wir haben uns getroffen und hatten ein intimes Gespräch. Später wurde ich dann zu einem Bankett eingeladen. Und die Dame hat sich wohl in mich verliebt. Aber diese Absicht hatte ich gar nicht.« Die drei jungen Damen kichern. »Naja, aber Sie sind ja auch sehr charmant. Da kann man sich das schon vorstellen!« Es werde eben schnell mal sehr persönlich, vertraulich, einfühlsam.
Zuhören gegen Bezahlung
Als Takanobu Nishimoto auf diese Berichte angesprochen wird, muss er lachen. »Indem wir eine niedrige Gebühr erheben, kann sich ein nettes Treffen mit uns fast jeder leisten. Und manchmal ist es doch einfacher, ein schwieriges Thema mit jemandem zu besprechen, der nichts mit dem eigenen Bekanntenkreis zu tun hat.« Das Innere vor einem Fremdem auszuschütten ist offenbar beliebt. Denn »Ossan rentaru« hat mittlerweile auch Konkurrenten. Mit der Plattform cyta.jp gibt es eine ganze Webplattform, in der erwachsene Menschen auch ohne professionelles Training neben dem Lehren eigener Hobbys wie Zeichnen oder Kochen auch das Zuhören anbieten.
Anfang des Jahres wurde zudem ein 37-jähriger Mann aus Tokio namens Shoji Morimoto über die landesweiten Medien bekannt, nachdem er sich auf Twitter folgendermaßen angeboten hatte: »Vermietung von Person, die nichts tut.« Er hat mittlerweile 270 000 Follower. Nachdem Morimoto seine Nichtstudienste anfangs gratis offerierte, kassiert er nun 10 000 Yen (knapp 80 Euro) pro Treffen. »Ich spaziere mit den Leuten und höre ihnen bei allem zu, was sie loswerden möchten. Ich gebe keine Ratschläge, aber ich urteile auch nicht«, hat er zur Tageszeitung Mainichi Shimbun gesagt. »Dadurch fühlen sich viele Menschen wohl.«
Für Shoji Morimoto ist das Ganze schon ein Geschäftsmodell geworden. Ob das für Takanobu Nishimoto, den Urheber der Idee, auch was wäre? Nein, winkt er ab, seinen Dienst »Ossan rentaru« sehe er eher als soziales Engagement. »Ich arbeite weiterhin als Stylist. Unsere anderen Ossans haben auch ihre Hauptjobs. Wir wollen ja nur helfen.«
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