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Die Einheitsfront
Bei der Einschränkung von Grundrechten während der Pandemie war man sich parteiübergreifend einig. Wer ist da noch wählbar?
Kontakt mit nur einer Person außerhalb des eigenen Haushalts, abendliche Ausgangssperren, Reiseverbote, Ruinieren ganzer Wirtschaftszweige: Noch vor einem Jahr hat sich niemand vorstellen können, wie rabiat politische Entscheider bereit sind, demokratische Grundrechte einzuschränken - und wie einig sie sich dabei jenseits von Parteigrenzen sind. Sieht man von der indiskutablen AfD ab, die sich »querdenkenden« Verschwörungstheorien und Corona-Leugnern anbiedert, sind es fast nur Stimmen aus der FDP, die die »Maßnahmen« kritisieren. Die noch wahrnehmen, dass es das ständig bemühte »Große Wir« bei der Bekämpfung der Pandemie gar nicht gibt. Die darauf hinweisen, dass angeblich alternativlose Schließungen einseitig Eltern, Soloselbstständige oder Kleinunternehmen belasten.
Ansonsten steht die Einheitsfront. Die mitregierende Sozialdemokratie leistet sich mit Karl Lauterbach einen Schattenminister für Gesundheit, der als Ober-Warnologe durch die Talkshows zieht. Er verbreitet düstere Prognosen, trägt sie vor wie ein Automat, soziale Konsequenzen interessieren ihn nicht. Einen eitlen SPD-Abgeordneten, der seine Rolle als Politiker einseitig medizinisch interpretiert, könnte man als Skurrilität betrachten. Doch Lauterbach ist in seiner Partei keineswegs isoliert. Auch Saskia Esken, weiblicher Part eines vermeintlich linken Führungsduos, fordert regelmäßig »Verschärfungen«. Manuela Schwesig ließ im letzten Sommer Feriengäste aus dem von ihr regierten Mecklenburg-Vorpommern ausweisen, weil diese 30 Kilometer von einer verseuchten Fleischfabrik entfernt ihren Wohnsitz hatten. Kanzlerkandidat Olaf Scholz macht als Finanzminister vollmundige Versprechungen, an der wirtschaftlichen Realität von Gastronomen oder Künstlerinnen aber geht die Antrags- und Vergabepraxis seiner Hilfsprogramme völlig vorbei. Freiberufler sind für Sozialdemokraten, wie für die Gewerkschaften, eigentlich Unternehmer. Mehr Kurzarbeitergeld für die abhängig Beschäftigten, damit helfen wir!
Bei den Grünen, die mit dem schleichenden Niedergang der Liberalen als neue Anwältinnen der Bürgerrechte gehandelt werden, herrscht eine Bereitschaft zur Kollaboration, die schon künftige Regierungsbündnisse andeutet. Umfragen zeigen, dass gerade ihre ältere Anhängerschaft - gut abgesicherte Rentner, die nichts mehr zu verlieren haben - der rigiden Lockdown-Politik mit den höchsten Zustimmungswerten applaudieren. Für Panikmache waren die Grünen schon immer anfällig, siehe die Themen Atomkraft, Waldsterben und Klimawandel.
»German Angst« funktioniert auch in der Pandemie bestens. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow wurde schnell zum Konvertiten, als die Infektionen in seinem Bundesland stiegen. Er verlautbarte kurzerhand: »Die Kanzlerin hatte recht.« In Teilen der Linkspartei kursieren totalitäre Zero-Covid-Strategien: Wenn die Wirtschaft komplett stillgelegt wird, sinken die Zahlen binnen weniger Wochen auf Null! Ein vor allem im globalen Maßstab völlig unrealistisches Szenario, auch wenn die damit verknüpfte Forderung einer europaweiten Vermögensabgabe sympathisch ist. Zudem zeigt das Konzept eine irritierende Nähe zu den No-Covid-Fantasien im engsten Beratungskreis um Angela Merkel. Manchen der dort Beteiligten kann es offenbar gar nicht schlimm genug kommen. Hauptsache, die gewonnene Meinungsführerschaft schwindet nicht! Sinkende Inzidenzen sind schlecht für unsere medienwirksamen Kassandra-Rufe!
Verkehrte Welt: Bei »Hart aber fair« sorgt sich Michael Hüther, Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, ganz ähnlich wie Sahra Wagenknecht bei Anne Will um die Zukunft des Einzelhandels oder der Veranstalterbranche. Selbst Focus-Kolumnist Jan Fleischhauer, ein erklärter Konservativer und notorischer Linken-Hasser, setzt im ARD-Presseclub einsam diskussionswürdige Akzente. Bei kommenden Wahlen also ein ungewohntes Kreuzchen bei der FDP? Nein. Christian Lindner bleibt, trotz seiner Corona-Gegenreden im Bundestag, ein Neoliberaler. Er will öffentliche Leistungen abbauen, Staatsbetriebe privatisieren, Steuererhöhungen für Reiche verhindern. Seine frühere Generalsekretärin Linda Teuteberg hat er mit einem Altherrenwitz sexistisch verabschiedet. Einfach unwählbar. Aber andere Parteien sind auch nicht besser.
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