Wien riegelt Tirol ab

Unprofessionelles Krisenmanagement in der Corona-Pandemie führt zu Streit zwischen Bund und Land

  • Stefan Schocher, Wien
  • Lesedauer: 4 Min.

Nicht alle Tage verhängt eine österreichische Bundesregierung eine Reisewarnung für ein Bundesland. Selbst im Verhältnis zwischen Wien und Tirol ist das eine ganz neue Eskalationsstufe. Gestritten wird darüber, ob die Maßnahmen wegen der Ausbreitung der südafrikanischen Corona-Mutation in Tirol verschärft werden müssen oder nicht: Die Tiroler Vorschläge zur Eindämmung der Virus-Mutation gehen den Behörden in Wien nicht weit genug. Ab Freitag ist das Verlassen Tirols nur mit einem negativen Corona-Test möglich; eine Zwangsmaßnahme, die für zunächst einmal zehn Tage gelten soll.

Es gibt also keine Einigung zwischen der Bundeshauptstadt Wien und der Landeshauptstadt Innsbruck über die Handhabung der Krise. Tirols Landesregierung legte sich in allem quer. Dass Gesundheitsminister Rudolf Anschober in Folge eine »Reisewarnung« für die Region aussprach, wird als »politischer Verzweiflungsakt« gewertet - und die von Bundeskanzler Sebastian Kurz verkündete Abriegelung als Notbremse. Damit hatte sich Tirol in dem Konflikt vorerst einmal durchgesetzt, denn rechtlich bindend ist diese Reisewarnung in keiner Weise. Die De-facto-Abriegelung Tirols ist es dagegen schon.

Wie im übrigen Österreich ging der harte Lockdown der letzten Wochen auch in Tirol zunächst in einen weichen über. Das bedeutet, dass der Handel wieder offen hat, körpernahe Dienstleistungen unter strengen Auflagen wieder erlaubt sind und die Schulen ab kommender Woche in den Präsenzunterricht zurückkehren. Und an diesem Punkt steckt Tirol jetzt erst einmal. Und das angesichts einer Lage, die Epidemiologen als kritisch einschätzen.

In der Vorwoche hatten sich die Berichte über Covid-Cluster mit der südafrikanischen Mutation in Tirol verdichtet. Auch von einer genetisch veränderten Tiroler Variante dieser südafrikanischen Mutation war die Rede. Alarm geschlagen hatte die Virologin Dorothee von Laer. Sie sprach sich für eine rasche Abriegelung des Bundeslands aus - in Tirol stieß sie damit aber auf breiten Widerstand aus allen möglichen Lagern: von der ÖVP-geführten Landesregierung über die ÖVP-dominierten Tiroler Wirtschaftsvertreter bis zu ÖVP-Abgeordneten. Tirols Regierungschef, Landeshauptmann Günther Platter, beteuerte zwar, man nehme die Mutation sehr ernst, wolle aber nicht für gutes Krisenmanagement bestraft werden.

Im grün geführten Gesundheitsministerium in Wien wiederum wollte man bis spätestens Sonntag eine Entscheidung treffen. Auf dem Tisch lagen dabei alle Optionen: Von einer kompletten Abriegelung des Bundeslandes über die Abriegelung einzelner Täler bis hin zur Verlängerung des Lockdowns für einen bestimmten Zeitraum. Und wie sich bei diesen Gesprächen gezeigt hat: Auch das ÖVP-geführte Kanzleramt hatte keinen großen Appetit auf eine Konfrontation mit den Parteifreunden in den Tiroler Bergen. Im Ringen zwischen dem Gesundheitsministerium und Tirol hielt sich Kanzler Sebastian Kurz fast demonstrativ zurück.

Dabei hat die erste Corona-Welle im Frühjahr gezeigt, dass es auch anders geht: Da hatte Kurz praktisch im Alleingang das Tiroler Paznauntal unter Quarantäne gestellt. Damals waren harte Maßnahmen aber auch noch populär.

Zugrunde liegt dem aktuellen Streit vor allem ein tiefgehender Vertrauensverlust zwischen Wien und Innsbruck: Erst die Verschleppung um den Corona-Hotspot Ischgl im März 2020 mitsamt einem desaströsen Krisenmanagement und haarsträubenden Fehleinschätzungen; dann das zähe Ringen um die Öffnung der Skigebiete vor Weihnachten, in dem sich Tirol als Wortführer gerierte; und zuletzt das augenscheinlich großzügige Umschiffen von Verordnungen durch die Ski-Hotellerie, vor allem auch in Tirol. Denn so dürften die Cluster mit der britischen und der südafrikanischen Mutation überhaupt erst entstanden sein. Anordnungen für die generelle Schließung der Hotellerie wurden in der Region großräumig umgangen.

Und als Sahnehäubchen des ganzen Desasters war zuletzt auch die Datenlage unklar: In der aktuellen Zuspitzung war zunächst die Rede von 75 bestätigten Fällen mit der südafrikanischen Mutation, dann von einem aktiven Fall. Aktuell heißt es, es gebe 165 bestätigte Fälle mit der Mutation.

Und jetzt? Im Gesundheitsministerium in Wien will man rechtlich prüfen, ob nicht zumindest besonders hart betroffene Regionen abgeriegelt werden könnten. Faktisch geht es für den Gesundheitsminister in Wien dabei aber nur mehr darum, das Gesicht zu wahren. Denn man kann wohl davon ausgehen, dass »heimliche« Urlauber in Tirol längst abgereist sind.

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