Die hohen und die nicht so hohen Wellen

Warum die Proteste an der Boğaziçi-Universität mehr Aufmerksamkeit bekommen als vergleichbare Vorgänge

  • Ismail Küpeli
  • Lesedauer: 4 Min.

Auf dem ersten Blick scheinen die Ereignisse in den letzten Wochen an der Boğaziçi-Universität in Istanbul etwas, was derzeit in der Türkei nicht ungewöhnlich ist: Studierende protestieren gegen die autoritär durchgesetzte und politisch motivierte Ernennung des Rektors durch Staatspräsident Erdoğan. Während die Protestierenden Argumente wie etwa die fehlende wissenschaftliche Eignung des neuen Rektors Melih Bulu anbringen, reagiert die türkische Regierung mit Hetze (so werden die Protestierenden als Terroristen bezeichnet) und massiver Repression. Proteste in Istanbul und zahlreichen anderen Städten werden von der Polizei unter Einsatz von Gummigeschossen und Tränengas aufgelöst. Dieser schon fast standardisierte Ablauf von autoritären Maßnahmen, Protest und Repression konnte man in den letzten Jahren immer wieder beobachten.

Allerdings deutet bereits die Tatsache, dass die Proteste der Studierenden der Boğaziçi-Universität eine sehr breite Unterstützung erhalten hat, auch und gerade von außeruniversitären Oppositionskräften, darauf hin, dass hier doch etwas Ungewöhnliches passiert. Ebenso fanden diesmal Solidaritätsaktionen im Ausland, etwa in Barcelona und Berlin, statt – anders als in vielen anderen vergleichbaren Fällen in den letzten Jahren. Diese breite Solidarisierung innerhalb und außerhalb der Türkei hat in Social Media schon zu Vergleichen zu den Gezi-Protesten 2013 geführt und auch die türkische Regierung hat deutlich gemacht, dass sie ein »Gezi 2.0« nicht zulassen wird. Tatsächlich haben die jetzigen Proteste mit der Bewegung von 2013 einiges gemeinsam; sie beide begannen in Istanbul und breiteten sich danach massiv aus. Eine weitere Auffälligkeit betrifft die Reaktion der Akteur*innen der bürgerlichen Mitte und den Unternehmensverbänden auf die Proteste. Während etwa die autoritären Maßnahmen der türkischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung bestenfalls ignoriert und leider viel zu häufig unterstützt werden, ist dies bei den Protesten der Boğaziçi-Studierenden anders. So plädierte TÜSIAD, der größte Unternehmensverband der Türkei, in einem offenen Brief dafür, die Forderungen der Studierenden wahrzunehmen und forderte die Regierung implizit zu einem Kompromiss auf. Eine solche politische Stellungnahme seitens TÜSIAD ist äußerst selten und im Bezug auf politische Proteste gegen die Regierung wohl einzigartig.

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Doch was hat TÜSIAD dazu bewegt, sich soweit in die Bresche zu werfen? Die Erklärung dafür liegt darin, dass die Studierenden der Boğaziçi-Universität als ein Teil der geistigen Elite der Türkei geltend. Der Unternehmensverband fürchtet zurecht, dass ein repressives Vorgehen dazu führen wird, dass diese Studierenden die Türkei verlassen und so wertvolles Humankapital verloren geht. Auch andere Reaktionen auf die Polizeirepression gehen in die gleiche Richtung. In einem O-Ton spricht eine Passantin davon, dass die Polizei diejenigen, die die besten akademischen Abschlüsse erzielen, angreifen würde und sagt »andere sind gegangen, diese [Studierende, A.d.A.] werden auch gehen«. Die Social-Media-Kampagne der Boğaziçi-Studierenden unter dem Hashtag #ÜlkemAdınaÇokÜzgünüm (»In Namen meiner Heimat bin ich traurig«) schließt ebenfalls an diese Erzählung an. Hier kritisieren erfolgreiche Studierende, die einen Beitrag für die Entwicklung der Türkei leisten wollten, dass sie nicht von der Politik nicht angehört werden und sich nicht mehr in der Türkei willkommen fühlen.

Es ist diese Bedeutung der Studierenden der Boğaziçi-Universität, die für diese ungewöhnlichen Reaktionen im Westen der Türkei sorgt – und nicht der autoritäre Eingriff der türkischen Regierung in die Belange einer Hochschule. Ein Bericht der kurdischen Nachrichtenagentur ANF über vergleichbare Vorgänge in den kurdischen Gebieten macht dies sehr deutlich. 2019 ernannte Staatspräsident Erdoğan einen AKP-Politiker zum der Rektor der Yüzüncü-Yıl-Universität in Van und die Dekanate der Fakultäten wurden ebenfalls mit AKP-Mitgliedern besetzt. Der autoritäre Eingriff in Van geht also deutlich über dessen, was in Istanbul versucht wurde. Allerdings haben die Vorgänge in Van zu keiner landesweiten Empörung geführt, Proteste von Studierenden in den kurdischen Gebieten wurden und werden im Westen der Türkei ignoriert. Falls es tatsächlich zu einem »Gezi 2.0« kommen sollte, müsste diese Ignoranz ebenso abgelegt werden wie die Denkweise, die Studierende in Istanbul höher wertet als jene in Van. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

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