Vorbilder bauen – Mut beweisen

Baukultur als staatlicher Auftrag und Teil ästhetischer Bildung

  • Jürgen Tietz
  • Lesedauer: 8 Min.

Was würde Donald Trump vom gerade fertiggestellten Berliner Schloss halten? So viel Zuckerbäcker-Säulenschönheit samt Kuppel und bekrönendem Kreuz müsste ganz nach dem Geschmack des amerikanischen Ex-Präsidenten sein. Klassizistenherz, was willst du mehr? Noch auf die letzten Tage seiner Präsidentschaft hatte Trump nämlich per »executive order« gezeigt, wie er sich künftige öffentliche Gebäude von Regierung und US-Behörden vorstellt. Weder dekonstruktivistisch oder betonbrutal solle Staatsarchitektur in seinen Augen sein, sondern säulenschön und gestrig. Der blitzweiße Klassizismus von Capitol und Weißem Haus in Washington, D.C., dient als Messlatte. Der Rückgriff der jungen amerikanischen Nation auf das Vorbild des römischen Capitols als Hort der Demokratie stellte sich am Ende des 18. Jahrhunderts sowohl als Versuch der eigenen Legitimation wie der Selbstvergewisserung dar. Welch hoher Symbolgehalt staatlichen Repräsentationsbauten innewohnt, hat der Sturm auf das Capitol Anfang Januar 2021 einmal mehr vor Augen geführt. Die Eroberung von Herrschaftsbauten entfaltet seit Jahrhunderten eine ikonische Macht, beim Sturm auf die Bastille während der Französischen Revolution wie beim fahnenschwenkenden Rotarmisten auf dem Berliner Reichstag 1945.

Falls Mr. Trump allerdings einmal an der von Franco Stella entworfenen Seite des Berliner Schlosses vorbeikommen sollte, dann dürfte ihn dort gewiss der Schlag treffen. Allerdings muss man nicht unbedingt der 45. amerikanische Präsident gewesen sein, um zu erkennen, wie weh Architektur dort tut. Hilflos rammt das Humboldtforum im rekonstruierten Schlüter-Schloss mit einer Tiefgaragenabfahrt gegen den rasterrohen Neubau, wo sich einst der mittelalterliche Kernbau des Schlosses befand. Autsch!

Hat der amerikanische Präsident mit seiner Forderung schönerer und ortsspezifischer Architektur bei öffentlichen Bauten am Ende recht? Und überhaupt: Ist es nicht fantastisch, dass sich ein Staatsoberhaupt leidenschaftlich für Architektur und öffentlichen Raum einsetzt? Stadt, Architektur und öffentlicher Raum sind schließlich zentrale Elemente für unser alltägliches Wohlbefinden. Unvorstellbar allerdings, dass Bundeskanzlerin oder Bundespräsident ihren Architekturgeschmack zum Staatsstil erheben wollten. Öffentliche Architektur ist hierzulande eine öffentliche Angelegenheit. Das gilt gleichermaßen für die Bauten von Bund, Ländern und Kommunen. Im Vergleich zu den »Grands Projets«, jenen eindrucksvollen Kulturbauten, mit denen sich französische Präsidenten gebaute Denkmale setzen, erscheinen die bundesdeutschen »Staatsbauten« fast bescheiden. Von Georges Pompidous »Centre Pompidou«, das Renzo Piano und Richard Rogers entwarfen, bis zu der von François Mitterand initiierten Louvre-Pyramide von Ieoh Ming Pei sind in Paris einige architektonische Meisterwerke entstanden. Vor dem Hintergrund derart ambitionierter Kulturbauten im Auftrag des Staates erscheint das vom Deutschen Bundestag (!) beschlossene Berliner Schloss in seiner mutlosen Rückwärtsgewandtheit als besonders peinlicher, ja fast schon tragischer Fehlgriff. Kein Wunder, dass die mit einer pseudobarocken Säulenorgie verkleidete Betonkiste auch international schlecht wegkommt. Der renommierte englische Architekturkritiker Edwin Heathcoate etwa bezeichnete den Retroschick des Schlosses als das tote Zentrum im toten Zentrum Berlins.

Ob Schloss oder Kirche, ob Wohnhaus oder Bauernhof, Architektur war stets der Spiegel einer Gesellschaft und darin ein Kind ihrer Epoche. Das galt selbstverständlich auch für das von Andreas Schlüter entworfene barocke Berliner Schloss. Mit seiner steinernen Pracht sang es bis zu seiner Sprengung 1950 das Herrscherlob der 1701 erworbenen preußischen Königswürde für Friedrich I. und seine Frau Sophie Charlotte. Solche Herrschaftsarchitektur verfolgte stets mehrere Aspekte. Sie sollte von Wohlstand, Kultur und Bildung ihrer Bauherren zeugen, selbst wenn diese nur vorgegaukelt waren. Man holte sich die bedeutendsten Baumeister der Epochen an die Höfe, denen wir Nachgeborenen heute die großartigsten steinernen Schätze verdanken. Neben der Repräsentation diente die Architektur zugleich der herrschaftlichen Legitimation. Etliche Paläste bezogen sich auf historische Vorbilder, nahmen Motive zumal der griechischen oder römischen Antike auf. Vor allem aber sollte Staatsarchitektur beeindrucken, wozu es freilich weder Säulen noch zwangsläufig Kuppeln braucht. Wie architektonische Einschüchterung durch pure Größe gelingt, hat George Orwell meisterhaft in seinem dystopischen Roman »1984« geschildert. Dort siedelt er das Ministerium für Wahrheit (Miniwahr) in einer riesigen Pyramide an, »ein Gebilde aus schimmernd-weißem Beton, das, Terrasse auf Terrasse, dreihundert Meter hoch in die Luft stieg«. Nirgendwo wurde der Missbrauch von staatlicher Architektur so deutlich wie im Fall der tumben neoklassizistischen Staatsbauten des »Dritten Reiches« mit ihrer brutalen Gigantomanie. Deshalb galten Marmor, Säulen und Pilaster, ja jede Form des Klassizismus und der ambitionierteren baulichen Repräsentation nach 1945 in Deutschland zunächst als unerwünscht. Das änderte sich mit dem Bau der an sowjetischen Vorbildern orientierten Stalinallee im Ostteil Berlins, die in den 1950er Jahren im Stil der sogenannten »nationalen Tradition« entstand. Darauf antwortete im Westteil Berlins 1957 die »Interbau« mit dem Hansaviertel, das im Duktus des westlichen Leitbilds der aufgelockerten und durchgrünten Stadt entstand. Heute friedlich vereint, haben sich die beiden unterschiedlichen Stadtmodelle auf ihren gemeinsamen Weg zum UNESCO-Weltkulturerbe gemacht.

Wer heute zwischen Reichstag und Bundestagsbüros am Ufer der Spree durch das Berliner Regierungsviertel flaniert, dem begegnet dort eine Vielfalt öffentlicher Bauten. Sie belegen, dass öffentliche Architektur im kreativen Wettstreit der Architekten-Wettbewerbe entsteht und nicht im staatlichen Stildiktat. Ein Garant für wirklich gute Architektur ist das zwar auch nicht, aber immerhin für transparente Entscheidungsprozesse. Seit dem Umzug von Bundesregierung und Parlament von Bonn nach Berlin in den 1990er Jahren drängen immer mehr Verwaltungsbauten des Bundes in Berlins Mitte und bilden dort mittlerweile eine Stadt in der Stadt. Wie viele es genau sind und was sie insgesamt gekostet haben, ist kaum zu ermitteln. Nicht einmal die »Bundesanstalt für Immobilienaufgaben« vermag das auf Anfrage präzise zu beziffern. Ebenso wenig kann man dort eine Antwort auf die Frage geben, wie verträglich solche baulichen Monokulturen für das Zentrum einer Stadt wohl seien. Dabei setzte die öffentliche Hand beim Hauptstadtumzug in den 1990er Jahren bereits wichtige baukulturelle Zeichen. Zu einer Zeit, als sich der Begriff der Baukultur noch gar nicht etabliert hatte. Der damalige Bauminister Klaus Töpfer, der später Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) wurde, trat energisch dafür ein, Bestandsbauten für den Bund weiterzunutzen, selbst solche mit einer NS-Vergangenheit. Was für ein mutiger und wegweisender Schritt. So zog das Finanzministerium in das von Ernst Sagebiel entworfene ehemalige Reichsluftfahrtministerium zwischen Wilhelm- und Leipziger Straße ein, das während der DDR als »Haus der Ministerien« gedient hatte. Behutsam wurden damals die unterschiedlichen historischen Zeitschichten saniert, darunter Max Lingners monumentales Wandbild auf Meißner Porzellan »Aufbau der Republik« (1952) an der Leipziger Straße. Neben der Geschichte blieb mit der Weiternutzung zudem die sogenannte »graue Energie« der Häuser erhalten, die dort einst verbaut worden war. Es sollte allerdings gut zwanzig Jahre dauern, ehe sich dieser nachhaltige Ansatz in der Breite der Baupraxis durchsetzte und zum Leitbild für Bundesbauten aufstieg.

Ein behutsamer Umgang mit dem Bestand schloss damals wie heute spektakuläre Neubauten wie das Kanzleramt von Charlotte Frank und Axel Schultes keineswegs aus, das aktuell um einen halben Kilometer mit neuen Büros erweitert werden soll. Doch worin besteht eigentlich die Rolle der öffentlichen Hand beim Bauen? Ihre Aufgabe ist es, baukulturelle Leitplanken zu formulieren und diese mit ihren eigenen Gebäuden vorbildlich umzusetzen. Auf europäischer Ebene hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Rahmen des »European Green Deal« jüngst ein »neues Europäisches Bauhaus« proklamiert, das bisher allerdings noch nicht über Nachhaltigkeitsfloskeln hinausgekommen ist. Prägnanter waren da die europäischen Kultusministerien. Mit der »Erklärung von Davos« haben sie 2018 der europäischen Baukultur eine Stimme verliehen, in der »Erkenntnis, dass eine gebaute Umwelt von hoher Qualität wesentlich zur Bildung einer nachhaltigen Gesellschaft beiträgt, die sich durch eine hohe Lebensqualität, kulturelle Vielfalt, Wohlbefinden der Individuen und der Gemeinschaft, soziale Gerechtigkeit und Zusammenhalt sowie eine leistungsstarke Wirtschaft auszeichnet«.

Ziel guter öffentlicher – staatlicher – Architektur sind keine Stildiktate »made by Trump« oder Bauhaus, sondern zukunftssichernde bauliche Konzepte. Ganz ohne Bauhauskuben kommt in der Bauhausstadt Dessau beispielsweise das bereits 2005 fertiggestellte Bundesumweltamt von Louisa Hutton und Matthias Sauerbruch aus. Ein organischer bewegter Stadtbaustein, dessen ökologischer Anspruch seitdem einer steten Beobachtung unterliegt und optimiert wird. Mit ihrem Entwurf für den Luisenblock, mit dem in Reichstagsnähe aktuell weitere Büros für Abgeordnete des Bundestages entstehen sollen, greift das deutsch-britische Architektenduo aktuell das Thema des – nachhaltigen – Holzmodulbaus auf, das sie bereits zuvor beim »Woodie«, einem Studentenwohnheim in Hamburg, realisiert haben. Holzmodule gelten als gut rückbaufähig und sind im Gegensatz zu anderen, energieintensiv zu produzierenden Baustoffen wie Beton und Stahl einfacher recycelbar.

Einer ökologisch wie ästhetisch vorbildlichen Baukultur bedarf es nicht nur auf der Ebene von Regierung, Bund und Behörden. Ebenso unverzichtbar ist sie in der Breite, bei Gebäuden der Länder und Kommunen. Gerade beim dringend benötigten (bezahlbaren) Wohnungsbau klemmt es allerdings häufig. Das zwängende Korsett aus Kostendruck und allzu engen Nutzungsvorgaben lässt kaum Raum für Innovation und Qualität, städtebaulich wie architektonisch. Wie erfolgreich gerade auf der Ebene der Kommunen gelebte Baukultur bei öffentlichen Bauten aussieht, das lässt sich besonders in kleineren Städten und ländlichen Regionen beobachten.

Mit seiner preisgekrönten Kita Kinderland hat das Berliner Architekturbüro Kleyer, Koblitz, Letzel, Freivogel in Wittstock/Dosse im Schatten des mächtigen Doms wunderbar aufgezeigt, was es bedeutet, in einem kleinstädtischen Zusammenhang mit souveräner Modernität den vorhandenen Bestand weiterzubauen. Gerade für Kinder und Jugendliche ist die alltägliche Erfahrung einer gelungenen Architektur zentral für die Ausbildung ihrer Wahrnehmung. Sie macht erlebbar, was eine gut gestaltete Umwelt ausmacht, und wird so intuitiv zum Bestandteil einer umfassenden ästhetischen Bildung.

Wie Kultur und Bildung mit Bewahrung und Weiterentwicklung des gebauten Bestandes zusammengehen können, veranschaulicht auch die Bibliothek in Luckenwalde. Der aus seiner ursprünglichen Nutzung gefallene Bahnhof der brandenburgischen Stadt wurde von »ff-architekten« um einen golden schimmernden Neubau ergänzt. Gerade an der Bauaufgabe Bibliothek lässt sich der Wandel von Gesellschaft und Architektur ablesen. Er führt von den Wissensorten des 19. Jahrhunderts mit ihren faszinierenden Lesesälen zu jenen lebendigen »Dritten Orten« der Gegenwart, an denen sich Lernen und Freizeit, Austausch und Ausbildung miteinander verbinden, ganz ohne Säulenlärm und Kuppelkrampf des rekonstruierten Berliner Stadtschlosses.

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