Die Arbeiter und die Anderen

Klassenkämpfe, Nation, Migration: eine Einführung.

  • Ralf Hoffrogge, Anja Thuns und Axel Weipert
  • Lesedauer: 9 Min.

Proletarier aller Länder, vereinigt euch!»: Mit diesem Schlachtruf endet das 1848 erschienene Kommunistische Manifest. Die beiden prominenten Autoren dieser Schrift gingen wie selbstverständlich davon aus, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter «kein Vaterland» hätten und übernahmen damit eine These des Frühsozialismus: Die Solidarität der Klasse stehe über der Nation. So sah es schon Wilhelm Weitling in seinem Werk «Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte» von 1839, in der er die Abschaffung der Nationalstaaten und auch die zwangsweise Einführung einer Universalsprache forderte, um nationale Gegensätze für zukünftige Generationen auszulöschen.

Dieses utopische Übermaß ließ in den folgenden Jahrzehnten erheblich nach. Bereits während der 1848er Revolution wurde die europäische Arbeiterklasse national eingemeindet. Der Erfolg bürgerlicher Revolutionen und Wahlrechtsausweitungen machte gegen Ende des 19. Jahrhunderts nationale Parlamente endgültig zum ersten Adressaten arbeiterbewegter Forderungen. Wie selbstverständlich gingen die sozialistischen Parteien der Zweiten Internationale ab 1889 davon aus, dass Internationalismus aus der Verbrüderung nationaler Arbeiterbewegungen herrühre. Ideen von «kultureller Autonomie», wie Otto Bauer sie für das multiethnische Österreich-Ungarn entwickelte, oder die Debatten der Bolschewiki und des jiddischen «Bundes» um die «nationale Frage» im Russischen Reich blieben Randphänomene. Sie entstanden nicht zufällig in Gesellschaften wie dem Habsburger- oder dem Zarenreich, die als Imperien noch nicht nationalstaatlich verfasst waren.

In der Rückschau betrachtet, trafen diese Debatten um ambivalente nationale Identitäten und den Widerspruch zwischen nationaler oder ethnisch-kultureller Identität und Klassenidentität jedoch eine Kernfrage kapitalistischer Gesellschaften. Denn weder im Globalisierungsschub des 19. Jahrhunderts noch im Freihandelsoptimismus des 21. Jahrhunderts können die Ströme von Kapital, Waren und Arbeit ohne das Gewaltmonopol von Nationalstaaten organisiert werden. Gleichzeitig untergrub der Weltmarkt stetig die Grenzen der Nation, riss immer wieder «alle chinesischen Mauern ein», wie Marx und Engels 1848 ebenfalls im Kommunistischen Manifest betonten.

Spaltung in der «Kulifrage»

Dieser permanente Widerspruch von globaler Produktionsweise und national oder lokal gebundener Arbeitsbevölkerung verursachte immer wieder Migrationsströme – sie und die Reaktionen darauf sind Thema der aktuellen Ausgabe der historischen Fachzeitschrift «Arbeit – Bewegung – Geschichte». Es versteht sich von selbst, dass ein Heft kein erschöpfendes Bild dieses Phänomens zeichnen kann. Aber die Beiträge aus unterschiedlichen Ländern und Zeiten deuten doch in der Summe zumindest an, dass Arbeit und Migration keine Phänomene sind, die sich getrennt voneinander verstehen ließen. Die Facetten sind vielfältig: Es geht um die Reaktion von «alteingesessenen» Arbeitenden auf neu ankommende Arbeitskräfte, um die Erfahrungen und Kämpfe der migrantischen Arbeiterinnen und Arbeiter sowie um gesellschaftliche Diskurse, die sie integrierten oder als Fremde ethnisierten.

Solche Abgrenzungstendenzen kannte auch die Arbeiterbewegung. Wo ihre Organisationen Migrationsphänomene ignorierten, verloren sie an Schlagkraft auch für ihre eingesessene «Kernklientel». Wie flüssig dieser Begriff ist, zeigt das Beispiel der USA, wo schon Emma Goldman in ihren Memoiren mit «amerikanisch» stets jene Arbeiterinnen und Arbeiter meinte, deren Eltern oder Großeltern einst selbst migriert waren. Man denke auch an die Kinder- und Enkelgenerationen der sogenannten Ruhrpolen des Deutschen Kaiserreichs, deren Migrationsgeschichte oft nur noch am Nachnamen erkennbar ist.

Die Debatte um Migration und Arbeit in der sozialistischen Bewegung keimte nach dem Abflauen des frühsozialistischen Kosmopolitismus in der 1889 gegründeten Zweiten Internationale neu auf. So etwa in der «Kulifrage» die sich um eine Bewertung chinesischer Arbeitsmigration drehte, von der Arbeitende in Nordamerika, aber auch in Europa Lohnkonkurrenz befürchteten. Die Internationale war hier gespalten – vor allem Mitglieder aus ehemaligen Siedlerkolonien wie Australien, Südafrika oder den USA wollten asiatische Einwanderung beschränken, während Delegierte aus Europa und Japan tendenziell dagegen hielten. Das Ergebnis war eine Kompromissresolution auf dem Stuttgarter Kongress 1907, in der unfreie Kontraktarbeit abgelehnt wurde, Arbeitsmigration an sich jedoch nicht.

Diese Resolution war salomonisch, jedoch nicht bindend – die Praxen der nationalen Arbeiterbewegungen unterschieden sich weiterhin sehr. Der Vorwurf des Lohndumpings, wie er auch arbeitenden Frauen gemacht wurde, fungierte als ein zentrales Narrativ von Befürwortern einer Schließung nationaler Arbeitsmärkte. Dieses Argument wirkte seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer erfolgreicher als Gegenkraft zur von Marx und Engels für selbstverständlich gehaltenen Vaterlandslosigkeit der internationalen Arbeiterklasse. Bereits in der Kulidebatte setzten Befürworterinnen des Internationalismus diese Vaterlandslosigkeit nicht mehr voraus, sondern die Debatte drehte sich darum, ob Arbeitsmigranten «organisierbar» waren oder nicht. Es kam also auf die konkrete Gewerkschaftsarbeit in den Zielländern an. Wurden Migrantinnen und Migranten einbezogen, ignoriert oder gar abgelehnt?

Vom «Gastarbeiter» zum Subjekt

Diese Frage war auch für die «Gastarbeiter» seit den 1950ern in der Bundesrepublik prägend. Simon Goeke zeigt in seinen Forschungen eine politische Entwicklung «Vom ›Gastarbeiter‹ zum politischen Subjekt». Das war eine Entwicklung, die vor allem auf die Kämpfe der Migrantinnen und Migranten selbst zurückging. Denn da, wo ihre Anliegen ignoriert wurden, kam es oft zu «wilden» Streiks, etwa 1973 bei Ford in Köln. Der Streik wurde für die IG Metall zum Weckruf für einen neuen Umgang mit migrantischen Mitgliedern. Dass migrantisch geprägte Arbeitskämpfe aber schon früher vorkamen, zeigt Anda Nicolae-Vladu am Beispiel des konzernweiten Streiks bei «Nordwolle» 1927. Hier überlagerten sich Konfliktlinien im Betrieb mit sozialen und ethnischen Fragen – wobei die Gewerkschaft migrantische Beschäftigte im Kampf teils integrierte und teils wegen eigenständiger Praktiken ausschloss.

Neben meist lokalen Streiks und im nationalen Rahmen agierenden Gewerkschaften der Aufnahmeländer sind transnationale Organisierungen von Arbeitenden ein wiederkehrendes Phänomen in der Geschichte. Verbände von und für Migrantinnen sind bis in die Frühphase der Arbeiterbewegung zurückzuverfolgen – so entstand etwa die deutsche Arbeiterbewegung aus Handwerkervereinigungen im Pariser Exil der 1830er. Im gesamten 19. und 20. Jahrhundert gab es neben «der» Internationale jeweils auch migrantische Verbände, die sich auf bestimmte Sprachgruppen konzentrierten. So etwa die «Federazione Svizzera del Partito Socialista Italiano», die in der Schweiz der Zwischenkriegszeit das alteingesessene italienischsprachige Proletariat ebenso ansprach wie von Mussolini vertriebene Neuankömmlinge aus dem Nachbarland. Klassische Auswanderungsländer wie Italien waren Anfang des 20. Jahrhunderts Vorreiter transnationaler Organisation. Francesco Vizzarri beschreibt mit der Italienischen Föderation der emigrierten Arbeitnehmer und Familien, kurz «FILEF» ein weiteres italienisch-internationales Organisierungsmodell, das in den 1970er Jahren in Europas Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung wirkte. Zugleich war die von Caner Tekin erforschte «Europäische Föderation türkischer Sozialisten» aktiv.

Auch hier spielte der Europabezug eine hoffnungsvolle Rolle: Nicht nur im liberalen Kontext, sondern auch für die sozialistischen Arbeiterorganisationen bot Europa nach den Schrecken von Faschismus und Weltkrieg seit 1945 eine Projektionsfläche, um den Widerspruch von nationaler Organisation entlang von Sprachgrenzen und propagiertem Internationalismus zu lösen.

Unerfüllte Europahoffnung

Dies gelang jedoch nicht. Während das Europäische Einigungsprojekt in frühen Formen wie der «Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl» von 1952 nicht nur Mitbestimmung, sondern auch Wirtschaftsplanung umsetzte, sind im späteren «Gemeinsamen Markt» gewerkschaftliche Interessen außen vor. Es dominiert das Prinzip der freien Bewegung von Waren und Kapital, die «soziale Säule» blieb eine Absichtserklärung. Hoffnungen auf einen europäischen Korporatismus oder gar ein sozialistisches Europa erfüllten sich nicht.

Nach dem langen Kampf um das Wahlrecht für arbeitende Frauen und Männer gelang es den europäischen Arbeiterparteien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts also lediglich, nationale Politik über längere Zeiträume zu gestalten und nationale Wohlfahrtsstaaten aufzubauen. Das kam auch migrantischen Beschäftigten zugute, doch existierte von der Bismarckschen Rentenversicherung über das skandinavische Modell bis hin zu aktuellen Debatten um ein Grundeinkommen kein Konzept, die Leistungen nationaler Wohlfahrtsstaaten zu internationalisieren. Auch die EU hat dies nie ernsthaft in Angriff genommen. Ebenso wenig konnte der Sozialstaat durch «Entwicklungspolitik» exportiert werden – falls jemals wirklich beabsichtigt. Stattdessen verschob sich nach nur einer Generation das Gleichgewicht. Mit einer Doppelbewegung aus Deindustrialisierung in den historischen Kernländern des Kapitalismus und rapider Industrialisierung in vielen Schwellenländern sank der Einfluss von Gewerkschaften und Arbeiterparteien auf die jeweilige nationale Politik und das internationale Welthandelsregime seit den 1970er Jahren. Strukturelle Arbeitslosigkeit brachte das von Marx und Engels als «industrielle Reservearmee» bezeichnete Heer der Arbeitslosen wieder auf die Bühne. Viele davon waren die über zwei Dekaden hinweg umworbenen «Gastarbeiter», die man nun teils mit Geld zur Rückwanderung bewegen wollte.

Doch zeigte sich rasch, dass die Migration nicht einfach umkehrbar war. Längst hatte sie die Einwanderungsgesellschaften verändert. Dies zeigte sich nicht zuletzt auch in der Alltags- und Populärkultur, beim Essen, in der Sprache, in der Musik. Thomas Barr und Patrick Böhm untersuchen diese Veränderung im Bereich der Arbeiterkultur und leisten eine musikhistoriografische Auseinandersetzung der «Songs of Gastarbeiter» zwischen Protest und Identitätssuche in der Bundesrepublik. Denn besonders in der Nachkriegsgesellschaft hielt sich lange die Idee von Migration als temporärem Besuch von «Gästen» – eine Vorstellung, in der das auf ethnischer Herkunft basierende Staatsbürgerschaftsrecht der Kaiserzeit ebenso nachklang wie das Erbe der NS-Ideologie von der Volksgemeinschaft.

Diese Vorstellung wirkt bis heute nach. «Auch die DDR hat eine Migrationsgeschichte, und zwar eine widersprüchliche.» Das betont Isabel Enzenbach im Interview zu einer Webdoku, die sich ebenfalls im Heft findet.

Zur Arbeit in den Arbeiterstaat

Das Projekt thematisiert die oft übersehene Geschichte dieser Menschen aus Vietnam oder Afrika, die sich keineswegs nur den Erwartungshaltungen im sozialistischen «Bruderland» anpassten, sondern mit Eigensinn ihre eigenen Interessen verfolgten. Die Spannung «Zwischen Integration und Isolation» lässt sich jedoch bereits früher und in anderen Gesellschaften nachweisen, wie Florian Grafl mit Blick auf Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Barcelona vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Spanischen Bürgerkrieges darlegt. Er zeigt, dass dieses Spannungsverhältnis Konjunkturen unterlag: Integration hing auch ab von zeitspezifischen Diskursen und der keineswegs fixen Identität der Alteingesessenen.

Ohnmacht und Nationalisierung

Durch die Migration der Nachkriegszeit wurde die Arbeiterklasse in Europa diverser. Mit Anbruch der neoliberalen Ära in den 1980er Jahren ist jedoch als Reaktion auf die wachsende Ohnmacht der Arbeiterbewegung ein erneuter Nationalisierungsschub der arbeitenden Klassen zu beobachten, der jenem im späten 19. Jahrhundert ähnelt. Seine Voraussetzung ist die Erosion sozialdemokratischer und kommunistischer Parteien, sein Symptom der langsame Aufstieg konservativer und später rechtspopulistischer Kräfte – nicht nur in Europa, sondern etwa auch in den USA oder Indien.

Doch sind Zeitdiagnosen, die Nationalismus als gegebene Grundtatsache von Arbeiterbewusstsein setzen, ebenso verfrüht wie die Wiederbelebung eines abstrakten Kosmopolitismus à la Weitling. Denn Gegenkräfte zeigen sich weniger als abstrakte Appelle an den Internationalismus, sondern als konkrete, ebenso programmatische wie praktische Arbeit. Als Beispiele zu nennen sind Diskussionen über einen demokratischen Sozialismus in der Demokratischen Partei der USA oder der bisher weltweit größte Generalstreik mit über 200 Millionen Beteiligten 2019 in Indien, der in europäischen Medien fast unterging. Es ist zu erwarten, dass es auch in der Zukunft zu überregionaler und transnationaler Arbeitsmigration kommen wird – und das weltweit.

Die Frage nach dem Verhältnis von Arbeiterklasse und Nation, nach Arbeit und Migration ist also zum aktuellen Zeitpunkt eines Abschwungs arbeiterbewegter Politik nicht erledigt, sondern aktueller denn je.

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