- Kultur
- Schule im Kapitalismus
Erziehung zur Unmündigkeit
Warum die Schule im Kapitalismus so wichtig ist.
Immer wenn mögliche Lockerungen der Coronamaßnahmen diskutiert werden, spielen die Schulen eine wichtige Rolle. Erst galten sie als Refugien der Unansteckbarkeit und dann als Hotspots, um schließlich zum Sinnbild der sozialen und psychologischen Folgen der Pandemiebekämpfung erklärt zu werden - mit einer »verlorenen Generation« von Schüler*innen. Mittlerweile wird an ihnen das Staatsversagen gemessen. Bis heute gibt es keine Aktionspläne für Schulöffnungen, und es wird gewitzelt, dass der Distanzunterricht mit Faxgeräten besser funktioniert hätte.
Natürlich ist Schulbildung staatliche Hoheitsaufgabe. An der Kinderbetreuung in der Schule hängen ganz konkret die Arbeitskräfte der Erziehungsberechtigten, die nur schwer auf den Markt getragen werden können, wenn sie ans Homeschooling gebunden sind. Diese Funktionalität im gewohnten Tagesablauf ist aber nur die halbe Wahrheit, warum die Schule ein so neuralgischer Punkt für die Rückkehr zur Normalität ist. Man könnte sagen, dass ohne die Institution Schule unsere Normalität gar nicht zustande kommt.
Das jedenfalls war eine der Thesen des französischen Philosophen und Marxisten Louis Althusser (1918-1990), der die Schule in der kapitalistischen Moderne den wichtigsten »ideologischen Staatsapparat« nannte, wichtiger als beispielsweise die Familie. Die Schule spiele eine übergeordnete Rolle für die »Reproduktion der Produktionsbedingungen«, also den Umstand, dass im Großen und Ganzen alles so bleibt, wie es ist. Dementsprechend lerne man in der Schule zwar wichtige Fähigkeiten, »aber in solchen Formen, dass dadurch die Unterwerfung unter die herrschende Ideologie« gewährleistet wird. Das klingt nach schlechtem George Orwell. Gemeint ist aber nicht die politische Abrichtung und Indoktrination, sondern vielmehr die Verinnerlichung gesellschaftlicher Widersprüche als unveränderbare und gute Ordnung. Früher, so Althusser, übernahm die Kirche diese Funktion, mit all ihren Kniffen, die Menschen und ihr irdisches Elend zu versöhnen.
Heute lernen wir in der Schule demokratische Werte, ein humanistisches Menschenbild, aber auch, dass der Wert eines Menschen an seiner Leistung gemessen wird, dass es für diese Bewertung Autoritäten gibt und dass Individualität eine Wettbewerbsposition ist. Ideologie ist also die Versöhnung des Widerspruchs zwischen individueller Entfaltung und Funktionierenmüssen. Die Schule ist jene Instanz, die den individuellen Reifeprozess als Anpassung an die bestehenden Verhältnisse begleitet und uns beibringt, dass unsere Einzigartigkeit und Selbstentfaltung darin besteht, unseren Platz in der Ordnung zu finden - Amen.
Solche Anpassung läuft nicht reibungslos. Theodor W. Adorno analysierte, die Menschen würden »eben in diesem Prozess der Anpassung genau dieses selbe Ich, dieses Selbst, verlieren, das sie eigentlich erhalten wollen«. Anpassung dient der Selbsterhaltung, aber ihr Ergebnis ist auch Ich-Schwäche, die tendenziell, so Adorno, im autoritären Charakter mündet: ein Mensch, der fehlende Selbstreflexion und Gewissen durch eine Identifikation mit eben der Ordnung kompensiert, die ihm diese raubt. Wer erinnert sich nicht an die Demütigung, mit der die Schule Abweichungen sanktioniert, an die Peinlichkeit der schlechten Noten, die Bloßstellung fehlender Kenntnisse an der Tafel oder der schlechten französischen Aussprache? Trotzdem idealisieren sehr viele Menschen die Schulzeit als die beste Zeit ihres Lebens.
Mehr noch, die Schulzeit als Sehnsuchtsort ist in der Unterhaltungsindustrie ein Massenphänomen. Das zeigt der Erfolg von Comedians wie Luke Mockridge oder Chris Tall, deren infantiler Lausbubenhumor ständig auf die Schulzeit rekurriert. Das beschworene Gelächter entschädigt für die eigenen Versagungen und spielt nicht zufällig in genau dem Setting, das einem diese angetan hat. Aber man lacht nicht darüber, wie hilflos man als junger Mensch dem Druck der Anpassung ausgesetzt war. Man entwickelt kein solidarisches Verständnis für die Macken und Ticks, die daraus erwuchsen. Stattdessen ist es ein Abreagieren aggressiver Impulse gegen die Klugscheißer*innen, Streber*innen, Lehrer*innen, ja, gegen das Denken schlechthin. Intellektuelle Reflexion würde schließlich das eigene Elend vor Augen führen, das in der »Kennste, Kennste«-Aufstachelung eines Mario Barth verdrängt werden soll.
Diese Projektion wird in »Fack ju Göhte«, der erfolgreichsten deutschen Filmreihe, auf die Spitze getrieben. Elias M’Barek spielt hier den Lehrer Zeki Müller, der selbst noch ein Kind ist und das hemmungslos ausagieren darf. Er prügelt und pöbelt sich zum Schüler*innen- und Publikumsliebling, nicht trotz, sondern wegen seiner offenen Aggression, die man im Schulbesuch ja sonst zu unterdrücken oder gegen sich selbst zu wenden lernen soll.
Zeki Müller ist ein durch und durch konformistischer Rebell, Outlaw und Führer. Als ein Schüler unter dem Mobbing psychisch zusammenbricht, eröffnet Müller einen protofaschistischen Initiationsritus. Alle ziehen sich aus, brüllen und vereinen sich zur Gemeinschaft, die jeden aufnimmt, der an seinem Platz bleibt.
Diese Vorstellung von Ordnung findet sich selbst in den vermeintlich entgegengesetzten liberalen Erzählungen des Coming-of- Age-Dramas. Darin stehen die Figuren der Außenseiter*in, des Teenage Dirtbag, Nerd oder Queers im Mittelpunkt, beziehungsweise die Empathie mit ihrem Konflikt mit der Normalität, sei es in Komödienform wie bei »Superbad« und »Awkward« oder als Drama wie »Love, Simon, Juno« oder der in der Postadoleszenz angesiedelten Serie »Girls«. Das Be-Yourself-Empowerment beschränkt sich allzu oft darauf, Verständnis für die Existenzschwierigkeiten aufzubringen, ohne deren Ursprung anzutasten. Das Leiden der unangepassten Kids an der Konformität wird ihnen nicht als strukturelles Problem abgenommen, sondern mit Jenseitigkeit vertröstet: ihre Einzigartigkeit taugt spätestens auf dem Arbeitsmarkt zu Wettbewerbsvorteilen. Sie werden eben später zu Steve Jobs, wie zuletzt in der deutschen Netflix-Serie »How to Sell Drugs Online (Fast)«.
Sowohl die liberale Huldigung des Individuums wie auch die autoritäre Revolte gegen die Freiheit können in der Schule spielen, gerade weil sie jene Instanz ist, die diesen Widerspruch versöhnen soll. Das ist, mit Althusser gesprochen, ihre gesellschaftliche Funktion. In Zeiten, in denen rechte Coronaleugner*innen aggressiv-libertär auftreten und Linke mit ihrem Verhältnis zu Staat und Autorität ringen müssen, ist die Schule daher die Projektionsfläche für Normalität. Sie bringt nicht nur endlich den insgeheim verhassten Nine-to-five-Job wieder, sondern verspricht, alles so weitergehen zu lassen, wie man es kennt. Amen.
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