Die Narren von Jüchsen

Viele Ansteckungen mit dem Coronavirus gehen im ländlichen Raum auf Kontakte im privaten Bereich zurück

  • Sebastian Haak, Erfurt
  • Lesedauer: 5 Min.

Diese Narren! Wenn es noch einen Beleg dafür gebraucht hätte, dass Peggy Greiser und Janine Merz mit mindestens einer ihrer Beobachtungen Recht haben, dann haben sie ihn erbracht. Damit, wie sie vor etwa drei Wochen feiernd und trinkend durch die Straßen von Jüchsen gezogen waren. Darunter ein stämmiger, groß gewachsener Mann in einem hell-orangefarbenen Bären-Kostüm. Gleich neben ihm jemand, der an eine Kopie von Kermit dem Frosch erinnerte.

Aber brauchte es diesen Beleg wirklich noch? Denn die Hinweise sind seit Beginn der zweiten Welle ziemlich eindeutig. Nicht nur, aber vor allem im Osten ist es besonders der ländliche Raum, in dem sich Corona-Hotspots entwickeln. Das Virus greift vor allem in Dörfern um sich und in Kleinststädten. Verhältnismäßig schwächer in den urbanen Zentren, obwohl dort auf den Quadratkilometer gerechnet viel mehr Menschen leben als zum Beispiel in Jüchsen, das die Heimat von etwa 1500 Menschen ist.

Nicht zufällig ist der südthüringische Landkreis Schmalkalden-Meiningen, in dem Jüchsen liegt, seit Wochen einer der schlimmsten Corona-Hotspots Deutschlands. Während die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz knapp unter einem Wert von 60 Corona-Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb einer Woche und der Thüringer Wert - mit wieder steigender Tendenz - bei etwa 110 liegt, verharrt er dort bei etwa 200. Ende 2020 waren die Infektionszahlen im Landkreis Hildburghausen, der gleich nebenan liegt, über Wochen hinweg noch dramatischer. Ungefähr parallel dazu, dass auch andere Landkreise in Thüringen und Sachsen - und nicht die kreisfreien Städte in beiden Freistaaten - zu den am heftigsten von der Pandemie betroffenen Regionen Deutschlands gehörten.

Die Narren von Jüchsen - etwa 90 insgesamt - hat das nicht gestört; anders als der Polizeieinsatz, der ihrem Treiben ein Ende setzte. Über ihn regen sich viele im Ort bis heute maßlos auf. Warum Sars-CoV-2 ausgerechnet im ländlichen Raum und seit Wochen so stark in Schmalkalden-Meiningen um sich greift, das hat nach Einschätzung von Greiser und Merz verschiedene Ursachen, die im Süden Thüringens offenbar auf eine verhängnisvolle Art ineinandergreifen. Denn im Grund gibt es das, was Greiser - die parteilose Landrätin des Landkreises - und Merz - eine SPD-Landtagsabgeordnete aus der Region - beschreiben, auch in anderen ländlichen Gegenden. Ganz abgesehen davon, dass die Erfahrungen etwa aus Hildburghausen zeigen, dass es sehr lange dauern kann, bis eine Region, in der die Corona-Zahlen einmal sehr hoch sind, von diesem Niveau wieder herunterkommt.

Zum einen, sagen beide Frauen, sei die soziale Struktur im ländlichen Raum anders als in den Städten. »Was sonst eine absolute Stärke unserer Region ist - die starken Sozialstrukturen - wirkt sich in der Pandemiebekämpfung nicht nur positiv aus«, sagt Greiser. Merz erklärt, es sei offensichtlich, dass es im ländlichen Raum auch in Corona-Zeiten häufig vorkomme, dass mehrere Generationen unter einem Dach wohnen, dass Kinder nachmittags von Oma oder Opa betreut werden, dass es vergleichsweise üblich sei, sich mit diesem oder jenem zu treffen.

Erst kürzlich beispielsweise, erzählt Merz, habe sie mit einer Bekannten aus dem Landkreis telefoniert, weil sie etwas in Erfahrung bringen wollte. Die Frau habe nebenbei erwähnt, dass sie gerade auf einer Geburtstagsfeier sei. »Da bin ich wirklich kurz laut geworden«, sagt Merz.

Ein Ergebnis solcher Kontakte ist, dass nach den Erkenntnissen des Landratsamtes viele der Corona-Infektionen im privaten Bereich stattfinden. Dort also, wo regelmäßig besonders eklatant gegen die Abstands-, Hygiene- sowie Kontaktregeln verstoßen wird - begünstigt auch dadurch, dass sich die Einhaltung dieser Regeln in einem der größten Flächenlandkreise Thüringens nicht flächendeckend kontrollieren lässt. Immer wieder, sagt jemand, der mit den Bemühungen des Gesundheitsamtes um die Kontaktnachverfolgung vertraut ist, sei es selbst bei Corona-Ausbrüchen fast unmöglich, alle Infektionsketten nachzuverfolgen. »Die Leute wissen ja, dass es verboten ist, sich zu großen Feiern zu treffen«, sagt er. Sie würden deshalb selbst im Ernstfall aus Angst vor Strafen niemals alle Kontakte angeben, die sie wirklich zuletzt gehabt hätten.

Zweitens verweist Greiser auf die Art der Jobs in der Region. Südthüringen hat pro Einwohner gerechnet eine der höchsten Industriedichten Deutschlands. Das meint aber auch, dass Homeoffice für viele Menschen dort keine Option ist. Sie müssen sich in ihre Betriebe bewegen, dort an die Maschinen. Das erzeugt Mobilität und Kontakte. Beides ist in einer Pandemie nicht gut.

Und zum Dritten: Die organisierten Corona-Leugner sind recht stark in der Region - auch wenn Merz beobachtet hat, dass sie zuletzt jedenfalls auf der Straße nicht mehr den Zulauf hatten wie in den Monaten zuvor. Dennoch ist sie erschrocken, wie auch »manche ehemals vernünftigen Eltern« sich inzwischen diesem Gedankengut hingäben und es selbst an die Jüngsten weiterreichten. »Wenn ich meinem Kind jeden Tage sage, wie sinnlos diese Maßnahmen angeblich sind, dann halten sie sich natürlich auch nicht dran«, sagt Merz. Greiser sieht das ganz ähnlich.

Wie in Hildburghausen im Dezember sollen in Schmalkalden-Meiningen nun Massentests ein präziseres Bild über das Infektionsgeschehen dort liefern - und zur Eindämmung der Pandemie beitragen. Am Montag werden sie starten.

Bleibt sich der ländliche Raum allerdings auch bei diesen Tests treu, so wie die Narren sich in ihrem närrischen Tun treu geblieben sind, werden nun - wie damals in Hildburghausen - nicht viele Menschen dieses Angebot annehmen.

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