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Der Schutz des Menschen – sehr bedingt
Die Forderung nach Freigabe der Patente von Impfstoffen muss sich an den Zielen relativieren, die Gesundheitspolitik real verfolgt
In der linken Diskussion über das bestmögliche Regierungshandeln zur Eindämmung der Corona-Pandemie formiert sich eine Bewegung, die man »NoPatent-Bewegung« nennen kann. Hier versammeln sich Rot-Grüne und Linke, Globalisierungskritiker und Völkerrechtler und Freunde des globalen Südens hinter der - leider unzutreffenden - Behauptung »Der Impfstoff gehört allen« der Artists for Vaccines, hinter dem von Attac ausgegebenen Befund »Patente töten« oder unter der Parole »Gesundheit darf keine Ware sein« - offenbar anders als Brot, Wein oder die Arbeitskraft. Ihre Forderung nach Freigabe des geistigen Eigentums beruht allerdings auf mehreren Fehlannahmen.
Patente sichern dem Inhaber oder der Inhaberin eine bestimmte Zeit lang das räumlich begrenzte Recht zur Entscheidung, wer die Erfindung - zum Beispiel eine Impfstoff-Rezeptur - zu welchen Bedingungen nutzen darf. Diese eigentumsähnliche Rechtsposition erlaubt dem Inhaber, seine Entwicklungsinvestition durch eigene Produktion oder die Vergabe von Lizenzen zu amortisieren und Profit zu erzielen. Zugleich werden durch die gesetzliche Pflicht zur Offenlegung der Erfindung Doppelerfindungen vermieden und Innovationen auf dem jeweiligen Stand der Technik angeregt. Ohne das Patentrecht würden Erfinder ihre Erfindung in der Regel als bloßes Know-how geheim halten.
Linke Kritiker eint nun der Wunsch, der Staat möge sich in der Stunde der Not über sein geltendes Recht und das konkurrierender Staaten hinwegsetzen. Er soll das im Patent nach der Logik des Kapitalverhältnisses zu Recht geschützte geistige Eigentum an den Rezepturen für die Impfstoffe weltweit und insbesondere für die ärmsten Länder frei geben.
So evident richtig und auf den ersten Blick sympathisch die Forderung ist, alle von Covid-19 bedrohten Menschen müssten unabhängig von ihrer Zahlungskraft geimpft werden, so sehr bleiben die Appelle an staatliches Handeln hinter ihrem moralischen Impuls zurück. Denn die Bestimmung staatlicher Gesundheitspolitik ist nicht der Schutz der Gesundheit und des individuellen Wohlbefindens aller - womöglich auch jenseits der Landesgrenzen. Ziel staatlichen Handelns ist vielmehr die Erhaltung der »Volksgesundheit«. Darunter ist nicht die Gesundheit aller zur »Bevölkerung« addierten Einzelnen zu verstehen. Sondern einerseits die Arbeitsfähigkeit einer ausreichenden Anzahl von Staatsbürgern und andererseits die mehr oder weniger kostenträchtige Sicherung einer Minimalexistenz der ökonomisch Überflüssigen - also der Alten, der Arbeitslosen und der Gruppen, die neuerdings »besonders vulnerabel« genannt werden.
Dieses Staatsziel camouflieren quer denkende Epidemiologen wie Hendrik Streeck, Unternehmensvertreter wie IW-Chef Michael Hüther oder Coronaliberale wie FDP-Chef Christian Lindner. Täglich tragen sie ihre Sorge um »die Wirtschaft« vor und mahnen, nach der Senkung der Ansteckungsraten müsse man nun endlich »mit dem Virus leben«. Letztlich komme es darauf an, »die Gesundheitssysteme« nicht zu überlasten und die Intensivstationen nicht »volllaufen« zu lassen. Mit anderen Worten: Verhindern müsse der Staat nur die aus der Lazarettmedizin bekannte Triage, nicht aber die lebensgefährliche Infektion als solche, die Toten, die Erstickungsangst der wundgelegenen Infizierten, die durch wochenlange künstliche Beatmung induzierten Traumata und die Langzeitfolgen der Infektion. Der Gesundheitsschutz misst sich an den Notwendigkeiten der »Wirtschaft« - in dieser Logik plädieren Ökonomen zuweilen auch für einen stärkeren Schutz der Bevölkerung, der zwar dem Kapital schade, letztlich aber billiger sei als eine unkontrollierte Epidemie.
Tatsächlich findet sich im Grundgesetz kein Recht auf Gesundheit. Schon 1953 hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden: Weder Art. 1 (Würde des Menschen) noch Art. 2 GG (Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit) begründet ein Grundrecht des Einzelnen auf eine angemessene Versorgung durch den Staat. »Ein verfassungsflüchtiges Gebilde«, nennt der Staatsrechtler Christian Pestalozza das Recht auf Gesundheit. Anerkannt in Rechtsprechung und Literatur ist nur, dass sich aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG die allgemeine Pflicht des Staates ergibt, ein tragfähiges Gesundheits- und Krankenversicherungssystem zu schaffen. Dabei komme ihm ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu, der sich am »Untermaßverbot« zu orientieren habe. »Die Finanzautonomie und -schwäche des Staates«, so Pestalozza, »sowie die Last des Bürgers, an der Bewahrung und Herstellung seiner Gesundheit eigenverantwortlich mitzuwirken, schützen vor Übertreibungen.«
Dem Schutz vor solchen »Übertreibungen« diente zuletzt die Neufassung des § 5 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) vom 27. März 2020, welche auch das Patentrecht betrifft. Das Gesetz erweitert zwar das schon zuvor bestehende Recht der Bundesregierung, die Benutzung einer Erfindung im Interesse der »öffentlichen Wohlfahrt« oder »der Sicherheit des Bundes« nach § 13 Patentgesetz (PatG) anzuordnen oder das Patent nach § 24 PatG zwangsweise zu lizenzieren. In beiden Fällen aber hat der Patentinhaber »Anspruch auf angemessene Vergütung«.
Eine Frage der Verteilung. Eine Patentaussetzung würde nicht rasch für mehr Impfstoff sorgen
Mit der Neufassung des § 5 IfSG kann die Exekutive den Arzneimittelmarkt zeitweise sehr weitgehend zwangsbewirtschaften, wenn der Bundestag zuvor eine »epidemische Lage von nationaler Tragweite« festgestellt hat. Eine solche Lage liegt laut Gesetz vor, »wenn eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik Deutschland besteht.« Regelungszweck des § 5 IfSG und aller sonst in der Pandemie einschlägigen Eingriffsnormen ist also die Erhaltung der »öffentliche Gesundheit« und der »Sicherheit des Bundes«. Diese Begriffe entstammen der postnazistischen Terminologie der Bundesrepublik, in der »Volk« durch »Bevölkerung« ersetzt wurde und »Volksgesundheit« durch »Gesundheit der Bevölkerung«. Der Staat des Kapitals sondert die Volksgesundheit als allgemeine Staatsangelegenheit aus dem Leiden und Sterben Einzelner in derselben Abstraktion aus, wie er als Staat überhaupt den allgemeinen Willen verwirklicht und so, wie das Geld die »allgemeine Ware« (Marx) realisiert.
Trotz seiner Macht, das Recht nicht nur zu kodifizieren, sondern auch als geltendes Recht durchzusetzen, kommt der Nationalstaat über den Horizont der Volksgesundheit nicht hinaus; jenseits seiner Grenzen interessiert ihn nicht einmal mehr diese. Dies gilt um so mehr für die sogenannte »Staatengemeinschaft«. In ihr kämpfen Nationen um den bestmöglichen Platz in der Standortkonkurrenz und nicht etwa um das Wohl der Menschheit. Die aus dieser Konkurrenz resultierenden Beschränkungen und Gegensätze ignoriert die NoPatent-Bewegung: Sie setzt auf Weltgesundheits- oder -handelsorganisation, auf einen »Covid-19 Technology Access Pool«, einen »Covid-19-TRIPS-Waiver« oder auch nur auf eine Amnestie für Impfstoff-Whistleblower - letztlich also auf das Ideal völkerrechtlicher Koordination der Nationalstaaten durch Verträge.
Solche multilateralen Verträge aber begründen kein wirkliches Recht. Letztlich erweisen sie sich als das, was im Zivilrecht »Letter of Intent« genannt wird: Absichtserklärungen auf Zeit. Diese können von den Vertragsstaaten im nationalen Interesse sehr frei ausgelegt und notfalls aufgegeben werden, weil keine übergeordnete Gewalt ein vertragskonformes Verhalten durchsetzen könnte und kein Weltpolizist sich anschickt, den Kampf gegen die Pandemie in die Hand zu nehmen. Bis auf Weiteres beschränkt sich die globale Koordination in Sachen Corona daher wesentlich auf den Wettlauf der Standorte um die Monopolisierung knapper Impfstoffreserven. Hinzu kommt der Versuch einiger Staaten, andere durch Impfstofflieferungen zu binden oder abhängig zu machen. Nicht der »Kampf der Menschheit« gegen eine Naturkatastrophe steht daher auf der Tagesordnung, sondern der Kampf konkurrierender Staaten untereinander, die sich im Sinne von Thomas Hobbes im Naturzustand befinden: alle gegen alle.
Christian Thalmaier ist als Rechtsanwalt vor allem im Gesellschaftsrecht und im gewerblichen Rechtsschutz tätig.
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