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»Die Linke muss anders mit Vorsitzenden umgehen«

Katja Kipping und Bernd Riexinger haben die Linkspartei viele Jahre geprägt. Nun verabschieden sie sich von der Spitze

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 9 Min.

Es gibt angenehmere Umstände, unter denen man eine neue Aufgabe übernimmt, als den Linke-Parteitag, der an einem warmen Juniwochenende 2012 in der niedersächsischen Stadt Göttingen stattfand. Nachdem sie in den Abendstunden zu den neuen Vorsitzenden gewählt wurden, winken Katja Kipping und Bernd Riexinger glücklich von der Bühne. Diejenigen, die für sie gestimmt haben, applaudieren. Doch es gibt auch hässliche Szenen. Einige Delegierte rufen hämisch: »Ihr habt den Krieg verloren.« Damit meinen sie das Lager um die unterlegenen Kandidaten Dietmar Bartsch und Dora Heyenn. Zuvor hat der damalige Fraktionschef Gregor Gysi in einer Rede deutlich gemacht, dass es so wie jetzt nicht weitergehen kann. Er redet sich am Pult in Rage, spricht von Hass, der in der Fraktion herrsche. »Ich bin es leid«, ruft Gysi. Manche fürchten, er könne bald alles hinschmeißen.

Rückblickend sehen Kipping und Riexinger die Anfangsphase als schwierigen Teil ihrer Amtszeit. »Innerparteiliche Kämpfe und Streitigkeiten, die nur scheinbar entlang von Ost/West oder PDS und WASG liefen, drückten auf die Stimmung der Partei«, sagt Riexinger. Seine Kollegin Kipping erinnert sich an interne Anfeindungen. »Diese mündeten in üble Liedtexte, weil einige meine Kandidatur als Verrat empfanden.« In dem 2013 öffentlich gewordenen »Liederbuch« wird Kipping als »Hexe« bezeichnet. Auch privat war die Situation nicht einfach. Kippings Tochter hatte einen Stillrhythmus von fünf Stunden und die Eltern zunächst noch keinen Kitaplatz, den sie dann aber schnell fanden.

Mehr als acht Jahre später hat sich die Partei konsolidiert. Die beiden scheidenden Vorsitzenden haben gezeigt, dass die Linke auch ohne Politiker in der ersten Reihe Erfolg haben kann, die lange wie Überväter wirkten: Oskar Lafontaine, Gregor Gysi und der 2013 verstorbene Lothar Bisky. Vor seiner Wahl zum Parteichef war Riexinger bundesweit weitgehend unbekannt. Ein groß gewachsener Gewerkschafter aus Baden-Württemberg, der sich gegen die neoliberale Agenda 2010 von Rot-Grün gewehrt hatte und charmant schwäbelt - viel mehr wusste man zu diesem Zeitpunkt nicht über ihn. In der Folgezeit gewann Riexinger ein Bundestagsmandat und erhielt auf Parteitagen stets viel Unterstützung. Kipping, deren Markenzeichen ihre rot gefärbten Haare sind, gilt als Vertreterin der jüngeren Ostdeutschen, also derjenigen, die in der PDS waren, aber keine SED-Vergangenheit haben. Sie hat den Kontakt zu sozialen Bewegungen ausgebaut.

»Wir mussten Vertrauen bei den Wählenden zurückgewinnen, eine neue Kultur von Zuhören und Kooperation in der Partei etablieren, uns wieder Respekt in den Medien verschaffen. Das ist ganz gut gelungen«, meint Riexinger. Die Ergebnisse bei den Bundestagswahlen sieht er als Erfolge. Es gehe ihm mehr noch darum, »wo wir heute beim Aufbau einer gesamtdeutschen sozialistischen Partei stehen«. Und da sei die Linke bei allen Aufs und Abs erheblich vorangekommen. Zwischen 2009 und 2012 verließen nicht wenige Menschen enttäuscht die Partei. Probleme haben auch Landesverbände, in denen der Altersdurchschnitt sehr hoch ist. »Wir konnten den rasanten Mitgliederrückgang stoppen und den Trend umkehren«, sagt Riexinger. Die Partei sei feministischer, migrantischer und queerer geworden. »Da zeigt sich, wie sich die Zusammensetzung der Arbeiterklasse selbst verändert hat. Viele junge Beschäftigte aus Pflege, Kitas, Handel oder prekäre Selbstständige sind zu uns gekommen. Das spiegelt die Schwerpunkte, die wir politisch gesetzt haben.«

Kipping verweist auf die großen linken Traditionen, auf die sich die Linke beruft. Zugleich stellt sie sich für die Zukunft auf. »Dazu gehört neben der Zuwendung zu Zukunftsthemen wie Digitalisierung, Klimaschutz und Feminismus, methodisch auf der Höhe der Zeit zu sein und die Produktivkräfte auf der Höhe der Zeit zu analysieren«, sagt sie. Die wichtigste Aufgabe habe darin bestanden, dass die Linkspartei in der Gesellschaft als ernst zu nehmende Kraft wahrgenommen werde. Das sei nicht nur eine Frage von Prozenten in Umfragen, »sondern davon, wie stark unsere Ideen in der Gesellschaft aufgegriffen werden«. Die Partei hat sich etabliert und ist aus der politischen Landschaft nicht mehr wegzudenken. »Und das ohne Kniefall vor dem Kapital, ohne Kniefall vor dem Militär«, erklärt Kipping.

Wichtig für den Frieden in der Partei war und ist, dass sich alle Strömungen vertreten fühlen. Der bei der Vorsitzendenwahl in Göttingen unterlegene Dietmar Bartsch führt seit Oktober 2015 die Bundestagsfraktion an. Zunächst tat er das im Duo mit Sahra Wagenknecht. Als sie nicht erneut für dieses Amt antrat, wurde im November 2019 Amira Mohamed Ali zur Ko-Fraktionschefin gewählt.

Insbesondere zwischen Wagenknecht und den beiden Parteivorsitzenden knirschte es gewaltig. In Erinnerung bleiben wird aber auch das Foto, das zeigt, wie Kipping gemeinsam mit Bartsch schützend vor Wagenknecht springt, nachdem die Linke-Politikerin bei einem Parteitag im Jahr 2016 mit einer Torte attackiert worden war. Die Tortenwerfer haben unabsichtlich dafür gesorgt, dass in der Führungsriege ein Gefühl der Solidarität entstand und Konflikte gedeckelt wurden.

Zwei Jahre später kommt es zur Eskalation. Wagenknecht hält in Leipzig eine Parteitagsrede. Sie spricht über die Migrationspolitik und die Frage, wie man Erwerbslose und Arbeiter zurückgewinnen kann, die zur AfD abgewandert sind. Frühere Äußerungen von ihr zum »Gastrecht«, das Asylbewerber verwirken könnten, hatten für viele Aufregung in der Linken gesorgt. Es gibt Applaus im Publikum, aber auch Buhrufe. In der anschließenden Debatte über Wagenknechts Rede äußern ihre Gegner harte Vorwürfe. Ein Hauch von Göttingen liegt in der Luft. »Du zerlegst gerade diese Partei«, ruft die Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach in Richtung Bühne, auf der Wagenknecht steht.

Am Ende entschärfen die Führungspolitiker die Situation. Kipping, Riexinger, Wagenknecht und Bartsch kommen gemeinsam auf die Bühne. »Parteivorstand und Fraktion werden zusammen eine Klausur machen«, verkündet Riexinger. Er fügt stolz hinzu: »Super, dass wir uns verständigt haben.«

Riexinger nennt rückblickend diese Auseinandersetzung um Solidarität mit Geflüchteten die »zweite schwierige Phase« seiner Amtszeit. Inhaltlich sei es darum gegangen, ob die Linkspartei ihr Positionen verändern sollte, und organisationspolitisch darum, ob die Beschlüsse des Parteitages in so einer wichtigen Frage gelten würden. Zusammen mit der unter anderem von Wagenknecht gegründeten Initiative »Aufstehen« sei die Partei vor eine Zerreißprobe gestellt worden. »Diese hat die Linke überwunden«, sagt Riexinger. »Ich bin froh, dass der Parteitag in Leipzig hier zu einer klaren Entscheidung geführt hat und die inhaltliche Position der Partei bekräftigte.«

Kipping erinnert an die Umbrüche in der Gesellschaft in den vergangenen Jahren. »Dadurch standen diese Fragen im Mittelpunkt der allgemeinen Aufregung: die Flüchtlingsfrage, die drohende Klimakrise, die Bedrohung von rechts und die Coronakrise.« Die Linkspartei musste sich zu den Krisen verhalten. »Unser Anliegen war dabei, diese Fragen mit der sozialen Frage zu verknüpfen, aber sie nie gegeneinander auszuspielen«, betont Kipping.

Die Partei hat nicht nur Krisen überstanden, sondern sie kann auch Erfolge vorweisen. Die Linke habe Kampagne gelernt, sagt Riexinger. »Mit der Pflegekampagne sind wir mitten im Herz der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um gute Arbeit und Aufwertung von so genannten Frauenberufen, einer öffentliche Daseinsvorsorge, die sich am Bedarf orientiert und wie sie gerecht finanziert wird.« Zudem habe sich die Linkspartei programmatisch weiterentwickelt. »Persönlich war mir das Konzept verbindender Klassenpolitik und die Debatte um ein neues Normalarbeitsverhältnis wichtig. Und aktuell natürlich die Herausarbeitung eines Konzeptes für einen sozialökologischen Systemwechsel«, sagt Riexinger.

Mitten in der Coronakrise müssen die Parteien ein Superwahljahr stemmen - keine leichte Aufgabe. Den Anfang machen Mitte März Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, wo Landtage gewählt werden. Diese Länder waren für die Linke schon immer ein schwieriges Pflaster. Die Westausdehnung ist eine Dauerbaustelle der Partei. »Wir wachsen in fast allen westlichen Landesverbänden und hatten auch Wahlerfolge«, sagt Riexinger. In Flächenländern, in denen die Linkspartei nicht im Landtag sei, tue sie sich noch schwerer, landespolitisch wahrgenommen zu werden, räumt er ein. »Allerdings sehe ich in meinem Landesverband in Baden-Württemberg, mit welchem Engagement und Optimismus die Mitglieder für eine starke Linke stehen. Ihnen gelingt auch hier eine, wenn auch noch langsame, Verankerung der Linken im Land.«

Am Wochenende steht ein Parteitag an, der vollkommen anders sein wird als alle vorangegangenen. Wegen der Corona-Pandemie wurde die Veranstaltung ins Internet verlegt. Die Delegierten wählen einen neuen Vorstand. Kipping und Riexinger treten dann nicht mehr an. Das Statut der Partei besagt, dass nach acht Jahren Schluss sein sollte. Favoriten für die Nachfolge sind die thüringische Fraktionsvorsitzende Susanne Hennig-Wellsow und ihre Amtskollegin aus Hessen, Janine Wissler.

»Die beiden neuen Vorsitzenden werden das meistern«, ist sich Kipping sicher. Sie warnt aber auch. »Unsere Partei hat zur Instanz der Vorsitzenden ein widersprüchliches Verhältnis. Einerseits sollen die Vorsitzenden möglichst gar nichts entscheiden, geschweige denn den Fraktionen etwas vorschreiben. Andererseits ist die allgemeine Erwartung, dass Vorsitzende alle Probleme lösen«, sagt die Parteichefin. Wenn irgendetwas schief gehe, neigten einige dazu, allen Unmut vorwurfsvoll an die Parteispitze zu adressieren. »Bernd und ich haben gelernt, das nicht persönlich zu nehmen. Für die Zukunft empfehle ich der Partei aber um ihrer selbst willen einen anderen Umgang.«

Kipping ist diesbezüglich optimistisch. »Die neuen Vorsitzenden waren an keinem der bisherigen Konflikte beteiligt. Das heißt, ganz gleich, auf welcher Seite der Konflikte Mitglieder bisher standen, wir können alle nun einen Strich unter diese Auseinandersetzung ziehen«, erklärt sie. »Wir alle können uns nun hinter den neuen Vorsitzenden versammeln und gemeinsam den Aufbruch in Angriff nehmen, auch den Aufbruch ins Zweistellige.«

Und wie geht es nun für Kipping und Riexinger weiter? »Ich habe etwas mehr Zeit, mich um meinen Bundestagswahlkreis und meinen Landesverband zu kümmern«, kündigt Riexinger an. »Mein Kreisverband Stuttgart hat mich mit einem tollen Ergebnis als Bundestagskandidat nominiert und der Landesvorstand hat mich einstimmig für die Spitzenkandidatur im Land vorgeschlagen.« Zudem will er sich beim Parteiaufbau mehr, als das zeitlich bisher möglich war, um den Ausbau linker Gewerkschaftspolitik und um eine stärkere Verankerung der Partei in den Gewerkschaften kümmern. Hinzu kämen die in seinem Buch »Systemchange« unterbreiteten Vorschläge für einen linken Green New Deal. »Die Partei soll erste Adresse für soziale Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit werden und beides als Klassenfrage begreifen«, sagt Riexinger.

Kipping will »als Brückenbauerin für neue linke Mehrheiten in der Gesellschaft wirken« und freut sich »auf das neue Kapitel in meinem politischen Wirken mit all seiner Offenheit«. Am Sonntag nach dem Parteitag plane sie etwas, was sie noch nie gemacht hat: »Ich gehe mit einer Freundin Eisbaden. Und in der Bundestagswoche danach kämpfe ich als Sozialpolitikerin gegen die Zumutungen von Hartz IV, für soziale Garantien und einen demokratischen Sozialstaat.«

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