Neonazis provozieren in Nordneukölln

Seit Wochen versuchen Rechtsextreme rund um einen Verdächtigen der Terrorserie mit Flugblättern für Unruhe im Kiez zu sorgen

  • Claudia Krieg und Marie Frank
  • Lesedauer: 3 Min.

Auch am vergangenen Sonntag ist Sebastian T. wieder unterwegs. Er ist Teil einer Gruppe von einem halben Dutzend Personen, die an der S-Bahn-Station Sonnenallee aussteigen und stadteinwärts ziehen. Sie werfen Flugblätter von der Neonazi-Partei »Der III. Weg« in Neuköllner Briefkästen. Einen Tag, nachdem hier mindestens 15 000 Menschen an einer Demonstration in Gedenken an die neun Menschen, die ein Rechtsextremist vor einem Jahr im hessischen Hanau erschossen hat, teilgenommen hatten.

Sebastian T. ist einer der Hauptverdächtigen der Terrorserie, mit der Neonazis seit Jahren Menschen in Neukölln bedrohen und angreifen, darunter viele Antifaschist*innen. Kurz vor Weihnachten hatte die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Mittäterschaft an Brandanschlägen auf den Buchhändler Heinz Ostermann und den Linke-Politiker Ferat Kocak zwar einen Haftbefehl gegen Sebastian T. und Thilo P. erwirkt, kurze Zeit später waren die beiden Neonazis jedoch bereits wieder auf freiem Fuß. Und nahmen ihre Aktivitäten wieder auf.

Seit einigen Wochen ziehen Neonazis wie Sebastian T. offensiv und vermehrt durch Kieze in Nordneukölln und verteilen rechte Propaganda in Form von Flugblättern und Aufklebern. »Sie sind gerade täglich unterwegs, werfen in die Briefkästen eine Mischung aus Parteiwerbung für den ›III. Weg‹, Corona-Leugner-Flyern und Beschimpfungen des Umfelds der ehemaligen Kollektivkneipe ›Syndikat‹«, sagt Kati Becker zu »nd«. Becker kennt die Neuköllner Neonazis wie Sebastian T. und Tilo P. schon lange. »Es ist das gleiche aktionsorientierte Spektrum, das sich früher in Kameradschaften organisiert und für die NPD interessiert hat«, erklärt die Projektleiterin vom Berliner Register, der Meldestelle zur Erfassung rechtsextremer und diskriminierender Vorfälle. Rechte Schmierereien und Brandanschläge, bei denen immer wieder Menschenleben bedroht sind, gingen seit Jahren auf ihr Konto, so Becker.

Die NPD ist bereits seit Längerem in der politischen Bedeutungslosigkeit versunken, also haben sich Neonazis wie Sebastian T. anderen Gruppierungen angeschlossen. Zu »Der III. Weg« bestehe eine größere ideologische Verbindung als zur AfD, so Becker. Und Flugblätter verteilen sei legal, die Neuköllner Neonazis um T. könnten hierbei wie gewohnt auftreten, würden Menschen einschüchtern und ihnen auch Gewalt androhen. Bisher sei »Der III. Weg« vor allem in Spandau, Reinickendorf, Treptow-Köpenick und Lichtenberg aufgetaucht. »Dass sie gerade jetzt in dieser Zeit so vehement in Neukölln losziehen, ist natürlich eine Provokation«, meint Becker.

Der Neukölln-Komplex war am Montag auch Thema im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses. Es könne nicht sein, dass die Tatverdächtigen und ihr Umfeld weiter aktiv seien und sich sicher fühlten, während ihre politischen Gegner*innen in Unsicherheit leben, monierte die Linke-Fraktionsvorsitzende Anne Helm, die selbst mehrfach von Neonazis bedroht wurde. »Die Staatsanwaltschaft arbeitet intensiv daran, eine Anklage zu erheben«, sagte Innensenator Andreas Geisel (SPD). Mit Blick auf den am Montag veröffentlichten Zwischenbericht der externen Sachverständigen, die den Neukölln-Komplex untersuchen, sagte Helm: »Die Wiederherstellung des Vertrauens in die Ermittlungsbehörden kann nur durch Aufklärung passieren, nicht durch Beschwichtigung.«

Polizeipräsidentin Barbara Slowik kündigte im Ausschuss die Einrichtung einer neuen Ermittlungsgruppe an, die Verbindungen von Polizist*innen zu rechtsextremen Kreisen und Straftaten untersuchen soll. Die Ermittlungsgruppe soll beim Landeskriminalamt angesiedelt sein und am 1. April ihre Arbeit beginnen. Laut Slowik soll sie »Kennverhältnisse, mögliche Zusammenhänge zwischen verschiedenen rechtsextremistischen Straftaten, die durch Polizisten begangen wurden« untersuchen. Damit hoffe die Polizei auch, das Fehlen eines entsprechenden Netzwerks innerhalb der Behörde »noch deutlicher« belegen zu können. Im Zusammenhang mit dem Neukölln-Komplex waren immer wieder mögliche Verstrickungen der Sicherheitsbehörden ins Tätermilieu publik geworden. Im vergangenen Jahr hatte die Polizei 24 Strafverfahren gegen Polizist*innen wegen rechtsextremistischer Vorfälle eingeleitet. Gleichzeitig laufen 47 Disziplinarverfahren wegen des Verdachts rechtsextremistischer oder rassistischer Äußerungen.

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