Nicht mein Zirkus, nicht meine Affen

Slawomir Sierakowski importiert »1968« nach Polen - und sogar die Konservativen sind ein bisschen stolz auf den 28-Jährigen

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 6 Min.
Fast hätte Slawomir Sierakowski eine eigene TV-Show bekommen, doch dann funkten die Konservativen doch noch dazwischen. Der Gründer der linken Philosophie-Zeitschrift »Krytyka Polityczna gilt als Vordenker einer neuen, jungen Linken in Polen.
»Einen Moment noch«, ruft Slawomir Sierakowski und verschwindet in einem Spätverkauf. Wenig später ist der junge Mann in Jeans und Mantel wieder zurück. Unter dem Arm trägt er eine Flasche süßlichen Kirsch-Wodkas - und eine Coca-Cola. Auf deren Etikett zeigt er nun: »Für mich gibt es nur eine Farbe: Rot«, sagt er - und freut sich sichtlich über dieses Paradox.
Wer heutzutage etwas von Sierakowski will, tut gut daran, ihn abends abzupassen. Am besten dann, wenn er in einer der kleinen Bars hinter der Chmielna-Straße in der Warschauer Fußgängerzone steht und in den Tresen sinniert - dann kann er wirklich nicht behaupten, gerade »in diesem Moment absolut keine Zeit« zu haben, »sorry«. Sierakowski kann ein reizender Gastgeber sein, der sich sichtlich freut, wenn Fremde spätnachts in seinem Arbeitszimmer tanzen. Dann kann er via Slavoij Zizek Lenin beschwören, Michael jackson oder The Clash mitsingen und wüste Drohungen gegen die Reaktion ausstoßen: »Keine Toleranz für die Intoleranten! Wir werden die religiöse Rechte aus der Öffentlichkeit entfernen! Wir sind keine Liberalen!« Was linke Philosophie-Doktoranden Ende zwanzig eben so tun.
Sonst hat Sierakowski nämlich nicht mehr so viel Zeit in seinem Leben, und mit den Absagen am Telefon klappt es auch schon ganz gut. Es ist nicht nur die Doktorarbeit über Politik »im post-säkularen Zeitalter«, die den studierten Philosophen so einnimmt. An der schreibt er nämlich schon eine ganze Weile. Es liegt auch nicht nur an der Theoriezeitschrift »Krytyka polityczna« (KP), die inzwischen allerdings in vieler Munde ist, obwohl sie vermutlich nur wenige wirklich lesen.
Sierakowski ist mit seinen gerade 28 Jahren schon eine Größe in der polnischen Öffentlickkeit, er ist gewissermaßen selbst schon ein Medienthema. Er hat in so ziemlich allen Blättern selbst veröffentlicht, er wird in politischen Talk-shows als eine Art Stimme der Kritik eingeladen - und als eine Redaktionsgruppe um seine Zeitschrift im Frühsommer den »krytyki politycznej przewodnik lewicy« veröffentlichte, ein im Frage- und Antwort-Format gehaltenes Handbuch für eine neue Linke, war dies für die polnische Presse von der linksliberalen »Gazeta Wyborcza bis zur rechtskonservativen »Rzeczpospolita« Anlass genug für großformatige Diskussionsbeiträge.

Gigantische Visitenkarte
Eine ganze Menge Aufmerksamkeit, die eigentlich erstaunlich ist bei einem Heft wie der Krytyka Polityczna. Eine kartonierte Vierteljahresschrift, sehr up to date an der Schnittstelle von Kunst- und Politikdiskurs gestaltet - aber inhaltlich schwere Kost: Die Frühjahrsnummer etwa befasst sich mit der »Apologie des Antagonismus«. Sie soll, doziert Sierakowski im Geleitwort, nicht weniger als »anhand der wichtigsten abstrakten Texte aus politischer Theorie und politischer Philsosophie der letzten Jahrzehnte die Schlüsselannahmen des polnischen Demokratieprojekts nach 1989 rekonstruieren und die wirklichen Gründe für seine Niederlage benennen.«
Das klingt forsch, aber wer sich durchs Inhaltsverzeichnis blättert, ahnt den Grund für das Selbstbewusstsein: Als »Autoren« werden aufgeführt: Jürgen Habermas, John Rawls, Anthony Giddens, Giorgio Agamben, Walter Benjamin, Antonio Gramsci, Chantal Mouffe, Judith Butler, Alain Badiou und Slavoj Zizek. Auch Subcomandante Marcos hat sich schon zu Wort gemeldet - eine lange Liste linker zeitgenössischer wie immergrüner linker Prominenz.
Natürlich sind viel Nachdrucke darunter, aber mit Habermas konnte Sierakowski selbst ein langes Interview führen, Slavoj Zizek steuert regelmäßig Texte bei. Auch Judith Butler, die epochemachende US-amerikanische Neo-Feministin, hat ein ausführliches Interview gegeben; andere, wie die Radikaldemokratin Mouffe, (»Zur Dekonstruktion des Marxismus«), die in Westminster politische Theorie lehrt, sind Sierakowski schon deshalb verpflichtet, weil die Schriftenreihe der Krytyka Polityczna ihre Bücher ins Polnische übersetzt. Die Zeitschrift funktioniert für Sierakowski als Visitenkarte - und wenn es um zeitgenössische Philosophie geht, dürfte sich in Polen nicht so leicht jemand mit ähnlichen Verbindungen finden.
Seit der ersten Ausgabe vor fünf Jahren sammelt Sierakowski solche Kontakte. Damals hatte er, gerade 23, einfach einen gewissen Ulrich Beck um einen Beitrag angeschrieben. Der Münchner Großsoziologe fand Gefallen an dem forschen jungen Mann aus Polen und machte mit; es wurde einer seiner ersten Texte auf Polnisch. Danach studierte Sierakowski bei Beck in München und lernte die philosophische Welt oft sogar persönlich kennen. Beck machte ihn mit Giganten wie Habermas oder Giddens bekannt. Inzwischen beschränken sich Sierakowskis Bekannte nicht mehr auf die Wissenschaft; sogar mit Andreas Stadler hat Sierakowski schon Texte verfasst - dem Chef des österreichischen Kulturforums in New York, der als Spezi des Wiener Kanzlers Alfred Gusenbauer (SPÖ) gilt.
Wer sich durch den Theorie-dschungel der Krytyka Polityczna gearbeitet hat, versteht das Geheimnis von Sierakowskis Erfolg: Er importiert das Denken des westeuropäischen 1968 mit Grundlagen und Fortentwicklungen nach Polen. Letztlich scheinen selbst die jetzt so mächtigen Konservativen ein bisschen stolz auf ihn zu sein - wo sie doch eigentlich Pickel kriegen müssten, wenn sie etwa Volksheld Lech Walesa in Che-Guevara-Optik auf T-Shirts sehen, die Krytyka Polityczna hat drucken lassen. Walesa, sagt Sierakowski ausnahmsweise völlig unironisch, sei für ihn ein tragischer Held: »In Polen haben die Arbeiter gesiegt - und den zynischsten Neoliberalismus ganz Europas bekommen.«

Lech Guevara im Papierkrieg
Ansonsten macht sich Sierakowski ostentativ keine Gedanken über die »Schlachtfelder der alten Generation«, wie er die polnischen Aufregerthemen nennt. Ob die Sicherheitsdienstakten nun veröffentlicht werden, ob General Wojciech Jaruselzki vor Gericht kommt - ihn kümmert das wenig. »Nicht mein Zirkus, nicht meine Affen«, sagt er dann. Ein altes polnisches Sprichwort. Trotzdem beobachtet Sierakowski die Entwicklungen der postkommunistischen Parteilinken in Polen sehr genau. Bisher, sagt er, gebe es keine politische Linke - »nur einen Platzhalter«. Er selbst sieht sich als eine Art Pressesprecher einer vituellen linken Bewegung, die noch nicht um die Köpfe der Massen ringen könne, sondern noch mitten im »Kampf um die Möglichkeit« stehe. »Es gibt keine kritische Soziologie, Philosophie oder Politologie in Polen, keine Wirtschaftsexperten, die nicht neoliberal wären«, sagt er. Es müssten erst Räume in Medien und Universitäten geschaffen werden, ein Netzwerk subversiver Intelligenz. Erst dann sei an einen realen Aufbruch auch nur zu denken. Sierakowski kommt oft auf Gramsci zu sprechen, wenn er über Politik redet. »Wir müssen in die Position kommen, die Fragen zu stellen und nicht nur Antworten zu geben«, sagt er.
Doch die tatsächliche Dynamik seines Marsches in die Institutionen musste Sierakowski kürzlich bitter erfahren. Bis Juli 2007 sah alles so aus, als würde er der Diskursmacht schon diesen Herbst einen großen Schritt näher kommen: auf TVP 1, dem ersten Programm des staatstragenden Öffentlichen Fernsehens, sollte er eine eigene Sendung bekommen. Die Pläne standen schon in den Zeitungen. TVP-Intendant Andrzej Urbanski schwebte eine wöchentliche Sendung von einer ganzen Stunde vor, in der Sierakowski nationale wie internationale Kulturprominenz zu zeitkritischen Gesprächsrunden einladen sollten. Geplanter Titel: »Antypospieszalski« - der, der es nicht eilig hat.
Eine steile Karriere wäre das gewesen, doch im Juli schlug das Imperium zurück. Plötzlich stand die Sendung nicht mehr auf dem Plan, es hatte »uneinheitliche Meinungen« gegeben. Endgültig entschieden ist aber noch nichts.
Ob er nicht fürchtet, in diesem Apparat aufgerieben zu werden? »Wieso?«, fragt Sierakowski zurück und schweigt ein wenig. »Die müssen Angst haben, nicht ich«, sagt er dann nachdenklich.
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