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Zerrbild der Börsengesellschaft
Eine Subkultur junger Anleger ärgert mit digitalen Werkzeugen die Finanzwelt.
Kurz vor Weihnachten 2009 rieben sich Musikfans beim Blick auf die britischen Singlecharts die Augen: Auf Platz 1 stand nicht etwa, wie die Jahre zuvor, der frisch gekürte Sieger der TV-Castingshow «X-Factor», sondern ein Uralt-Song der Alternative-Rock-Band Rage Against the Machine. Über Facebook hatten sich zuvor Hunderttausende verabredet, den Titel zu kaufen, um der kommerziellen Musikindustrie eins auszuwischen. Der Erfolg machte deutlich, wozu eine gut vernetzte Internetgemeinde in der Lage sein kann.
Seit einigen Wochen scheint dies nun auch dort zu gelingen, wo sich das ganz große Geld tummelt: an den Börsen. Über Internetforen auf Portalen wie Reddit, Twitter und Stock-twits tauschen sich Leute über Aktien aus, setzen gemeinsam auf bestimmte kleine Titel, was deren Kurs in die Höhe treibt. Für großes Aufsehen sorgte der Hype um die Aktie von Gamestop, einer bekannten Ladenkette für neue und gebrauchte Computerspiele. Er war nämlich gleichzeitig eine Attacke auf Hedgefonds, die in großem Stil auf einen Kursverfall wetteten und Ende Januar Milliardenverluste einfuhren, während manche der Kleinanleger riesige Gewinne machten.
Die wären womöglich noch größer geworden, hätten nicht wichtige Broker unter dubiosen Umständen den Handel vorübergehend eingestellt, was auf viel Kritik stieß. Die Börsenaufsicht begann Untersuchungen der ganzen Vorgänge, der US-Kongress führte eine Anhörung mit Beteiligten durch. «Sie sind verzweifelt, sie sind in Panik. Und wir sehen Blut im Wasser», kommentierte einer der Neo-Aktionäre das Geschehen. Analysten sprechen vom Beginn eines «Zermürbungskriegs zwischen einer neuen Generation von Investoren und den Etablierten».
Erst jetzt wird so richtig wahrgenommen, dass in den vergangenen Jahren am Rande der Börsenwelt eine neuartige Anlegerszene entstanden ist. Ihr bekanntestes Forum, Wallstreetbets auf Reddit, hat mittlerweile über neun Millionen Mitglieder. Besonders seit dem Rummel um Gamestop kamen täglich Zehntausende neu dazu. Auch wenn die Nutzer sich hinter fiktiven Namen verstecken, gilt es als sicher, dass es sich vor allem um junge Männer zwischen 20 und 35 Jahren handelt. Die Aktionäre kommen aus einer Bevölkerungsgruppe, die manche Soziologen als Millennials bezeichnen: vor der Jahrtausendwende geboren, technikaffin, die traditionelle Welt und deren Werte infrage stellend, mit der Perspektive auf instabile Arbeits- und Einkommensverhältnisse.
Die neuen Anleger bilden quasi eine Gegenkultur zur etablierten Finanzwelt der Wall Street, die Geld machen will – egal mit was. Wie im Beispiel Rage Against the Machine geht es hingegen den Junganlegern darum, die eigenen erfolgversprechenden Lieblinge zu pushen. Es sind Firmen mit vielen Likes, nicht unbedingt mit besonders guten Bilanzprognosen. Gamestop ist aus Sicht der Wallstreetbets-Gemeinde cool und soll nicht von Hedgefonds gespamt werden.
Während die konservative Wirtschaftswelt das Geschäftsmodell der Ladenkette für erledigt hält, da das Herunterladen von Spielen die Zukunft ist, gibt es viele Gamer, die ihre Spiele und die bunte Verpackung physisch besitzen und in der Hand halten wollen. Dies erinnert an die Schallplatte, die ebenfalls vor vielen Jahren totgesagt wurde, aber als Vinyl ein Comeback in bestimmten Kreisen feierte. Neben Gamestop erleben unter anderen auch der Kinobetreiber AMC Entertainment, die Handy-Urgesteine Blackberry und Nokia, die Saugroboterfirma iRobot oder auch Cannabis-Firmen wie Tilray und Canopy Growth einen Börsenhype.
Seit einigen Jahren ein Schlagwort in der Internetszene, etabliert sich jetzt auch in der Finanzwelt ein Begriff für solche Aktien: «Meme Stocks». Ein Meme ist eigentlich ein bekanntes Bildchen oder Kurzvideo, das durch einen lustigen Text eine neue Bedeutung bekommt, von vielen im Netz geteilt wird und oft ein Lebensgefühl oder auch eine politische Botschaft ausdrücken soll. Bei «Meme Stocks» gehe es um «ein Gefühl, dass ein Unternehmen in der Zukunft Probleme lösen kann», erläutert Aktienanalyst Michael O’Mahony auf dem unabhängigen Finanzportal «MyWallSt Blog». Das habe Folgen: «Populär unter den Millennials, sind Meme-Stocks anfällig für hohe Volatilität», also für hohe Kursschwankungen, warnt er. Immer stelle sich die Frage: Handle es sich «um einen berechtigten Hype oder nur um heiße Luft»?
Die Jungaktionäre gehen besonders hohe Risiken ein. Aber das tun sie nicht aus Unerfahrenheit, sondern durchaus bewusst. Auf Wallstreetbets zelebrieren es manche Nutzer geradezu, wenn sie soeben einen hohen Tagesverlust eingefahren haben. So unterscheidet sich diese Social-Media-Szene auch deutlich von den Selbstdarstellern auf Instagram, wo das Leben nur aus der Sonnenseite besteht. Bei Gamestop feuert man sich, da der Kurs wieder stark zurückgegangen ist, an, die Aktie weiter zu halten oder zuzukaufen, um sich nicht den «Hedgies» zu beugen.
Dass die Junganleger das Börsengeschehen nicht richtig ernst nehmen, kommt ebenfalls in der Finanzwelt schlecht an. Abschätzig wird bereits von der «Gamifizierung» der Börsen gesprochen. Tatsächlich scheinen für viele Neo-Aktionäre ihre Börsenaktivitäten eine Art neues Videospiel zu sein, das man abends auf dem Gaming-Stuhl am heimischen PC spielt, wo man durch Corona mehr Zeit für so etwas hat. Es geht nicht nur darum, zu gewinnen, sondern auch die Bösewichter, wie man sie sonst auch bei Shooter-Spielen ausschalten muss, zu besiegen; das sind hier eben die Hedgefonds.
Die rasante Verbreitung des neuen Spiels wird auch durch die Digitalisierung des Börsenhandels ermöglicht, die diesen extrem niedrigschwellig für Leute mit wenig Geld macht. Früher mussten Kleinanleger erst bei einer Bank ein Depot samt Konto anlegen, Order per Telefon durchgeben und am Monatsende auf den Kontoauszug schauen, wie alles so gelaufen ist. Heute gibt es kleine Trading-Apps wie Robinhood, Etoro oder Trade Republic, mit denen alles mit ein paar Klicks erledigt werden kann, auch unterwegs vom Smartphone aus. Und man sieht auf einen Blick in Echtzeit, wie sich die Dinge entwickeln.Über diese Apps kann man sich auch mit Kleinstsummen an den Börsen tummeln und zwar meist gebührenfrei. Die neuen Anleger kaufen und verkaufen täglich, hantieren mit Aktien, ETFs, Kryptowährungen und selbst mit hochkomplexen Optionsscheinen, die früher nur erfahrenen Finanzexperten zugänglich waren.
Früher waren Kleinaktionäre konservative ältere Herren mit nicht kleinem Bankkonto, die Aktien über Jahre hielten und in Scharen am kostenlosen kalten Buffet auf den Hauptversammlungen großer AGs anzutreffen waren. Bei den Aktionärstreffen ließen sie Dampf ab, wenn der Kurs schlecht lief und die Dividende gering ausfiel. Man folgte den schlichten Weisheiten ebenso alter Börsenexperten. Solche Kleinaktionäre werden belächelt, was für die Neo-Aktionäre nicht gilt. Diese gehen nicht zu Aktionärstreffen, sondern bleiben unter sich und anonym im Netz, was zumindest für Unwohlsein in etablierten Finanzkreisen, aber auch in konservativen Medien und der Politik sorgt, da niemand weiß, wohin die Reise noch geht.
Soziologisch betrachtet, muss man wohl von einer klassischen Subkultur sprechen, mit bestimmten Werten, eigener Sprache und Symbolik. Man ist eine verschworene Gemeinschaft, benutzt besonders codierte Begrifflichkeiten, die für Außenstehende nicht zu verstehen sind. «To the moon» sollen die Kurse der «Meme-Stocks» gehen, verstärkt mit einem Raketen-Emoji; mit Yolo (abgekürzt für: «You only live once», also «Man lebt nur einmal») werden besonders riskante Investments angekündigt; Aktien heißen «Stonks» – die Verballhornung des englischen Worts für Aktien geht natürlich auf ein Meme zurück.
Und irgendwie schwingt da auch ein politisches Statement mit. Robinhood nutzt als symbolgeladenes Logo eine grüne Feder, wie sie der mittelalterliche Kämpfer für die Schwachen und Armen am Hut trug. «Wir sind auf einer Mission, die Finanzmärkte ganz und gar zu demokratisieren», lautet das großkotzige Motto der App. Das ist natürlich strategisch sinnvoll, denn besonders krasse Botschaften bringen im Internet große Aufmerksamkeit. Doch den Robinhood-Gründern ist es damit auch ernst, stammen sie doch aus dem Umfeld der Occupy-Wall-Street-Bewegung, die im Herbst 2011 in New York durch wochenlange Proteste gegen die Macht der Banken und gegen wachsende soziale Ungleichheit von sich reden machte.
Auch die neuen Aktionäre haben der Finanzwelt und den Regierungen den Kampf ansagt. Aus der Finanzkrise haben die Millennials die Lehre gezogen, dass staatliche Regulierung der Märkte nur dazu da ist, Big Money zu schützen. Man fühlt sich wie die gewieften Underdogs, die in der Netflix-Serie «Haus des Geldes» die spanische Zentralbank ausrauben, die mit ihren roten Overalls und den Salvador-Dalí-Masken ebenfalls auf starke Symbolik setzen. Genau wie diese will man auf Kosten der Finanzwelt mit nicht ganz legalen Taktiken – Marktabsprachen – reich werden, was in ihrer Arbeitswelt nicht möglich ist.
Gleichzeitig haben die neuen Anleger aber auch keine Berührungsängste mit der Börse. Das liegt sicher daran, dass die Bewegung stark US-amerikanisch geprägt ist. Ein Großteil der Altersversorgung der Eltern und wohl irgendwann auch der eigenen hängt von der Börsenentwicklung ab. Große Pensionsfonds gehören ebenfalls zu den Marktmachern, die Teile ihrer Gelder auch in Hedgefonds stecken, um höhere Renditen zu erzielen.
Letztlich findet sich bei den Wallstreetbets-Aktionären eine wilde Mischung aus Zockermentalität, Social-Media-Coolness, David-gegen-Goliath-Attitüde und schlichter Gier. Sie sehen sich als eine Meute von Einzelgängern, die sich selbst als «Autisten» oder «Degenerierte» bezeichnen, aber gerade die Macht der Gemeinschaft entdeckt haben.
Auch sozial ist die Bewegung heterogen: Studenten, die ein paar Dollar ihrer Studentenkredite opfern, IT-Fachleute, deren Salär bei einem Tech-Start-up mickrig ausfällt oder die coronabedingt arbeitslos sind. Es finden sich blutige Börsenanfänger, aber auch semiprofessionelle Anleger, die mit großen Summen hantieren. Star der Szene ist Keith Gill, der sich je nach Kanal DeepFuckingValue und The Roaring Kitty nennt. Er setzte bei Gamestop einen fünfstelligen Doppelbetrag, sein Gewinn betrug mehrere Millionen.
Doch wo steht die Bewegung eigentlich politisch? Auch hier gibt es ein wildes Durcheinander: Linke Börsenkritik à la Occupy Wall Street trifft auf rechtslibertäres Gedankengut, linksliberaler Netzaktivismus auf ein finanzkapitalistisches Bestreben, ans schnelle Geld zu kommen. Damit nicht Streit und Hasskommentare die Forumsmitglieder von ihrem Ziel abbringen, wollen die Wallstreetbets-Macher politische Debatten draußen halten: «WSB ist keine Bühne für langweiliges politisches Geschwätz und wird auch nicht als Propagandawerkzeug von wem auch immer genutzt», heißt es in den Leitlinien.
Ganz draußen bleibt die Politik aber nicht: So entspann sich vor wenigen Tagen eine Debatte, als der Nutzer ShitsKicksBricks in die Runde warf: «Wallstreetbets, Gamestop, and the End of Capitalism». MarketStorm hielt dagegen: Es gehe doch darum, «Kapitalismus inklusiver für jeden zu machen, speziell für Autisten. Autisten lieben Kapitalismus und wollen ein Stück vom Kuchen abhaben.» Mars8 dagegen geht davon aus, dass «wir noch gar nicht den wahren Kapitalismus haben», den erst die neuen Anleger erschaffen. Cesarmac erwidert: «Kapitalismus basiert darauf, die Regeln des freien Marktes zu befolgen. Wenn die Reichen jetzt Angst kriegen und Firmen wie Robinhood zwingen, den Handel zu stoppen, ist es nicht länger Kapitalismus.»
Auch angesichts dieser Heterogenität tun sich Linke in den USA schwer, an der neuen Bewegung etwas Positives zu finden. Progressives Potenzial sieht eigentlich nur die unter jungen Wählern beliebte linke Abgeordnete der Demokraten, Alexandria Ocasio-Cortez: Die stärker «demokratisierten» Plattformen hätten begonnen, den Reichen Macht zu entziehen«, sagt sie. »Normale Menschen beginnen, Schwachstellen in einem System zu identifizieren und auszunutzen, das traditionell abgeschottet war.«
Doug Henwood, Gründer der nicht mehr existierenden linken Wirtschaftszeitschrift »Left Business Observer«, hat ein bestenfalls ironisch gemeintes Lob parat: »Die Online-Scherzbolde haben der Welt einen Dienst erwiesen, indem sie uns an die völlige Nutzlosigkeit des Aktienmarktes erinnern, der nur eine kleine Zahl unwürdiger Leute reich macht.«
Linkskeynesianer wie Paul Krugman lehnen die jungen Aktionäre ab, insbesondere wegen der Rhetorik gegen staatliche Finanzmarktregulierung. Scharfe Kritik kommt auch von Neo-Marxisten. In einem Interview im angesagten Magazin »Jacobin« erläutert Edward Ongweso Jr., Kritiker der Tech-Unternehmen und Betreiber des Podcasts »This machine kills«, Demokratisierung bedeute bei den Jungaktionären lediglich, »das Casino für so viele Leute wie möglich zu öffnen«. Die Gamestop-Story sei »nur die neueste Inkarnation des Trugbildes des ›Volkskapitalismus‹«. Besitz und Kontrolle blieben trotz des Erfolgs über einige Hedgefonds in den Händen mächtiger Kapitalisten.
Tatsächlich ist das Veränderungspotenzial der jungen Zocker, die in einem Multibillionenmarkt vielleicht ein paar Milliarden bewegen können, eher klein. Doch da sie in Scharen urplötzlich auftreten und zumindest die Kurse kleinerer Firmen treiben können, werden sie in der Börsenwelt ernst genommen, teils sogar gefürchtet, da sie bestehende Regeln aushöhlen. Manche fragen sich, ob das Geschäftsmodell zumindest von Hedgefonds jetzt nicht mehr funktioniert. »Das Gamestop-Phänomen wird unseren Blick auf Leerverkäufe für immer verändern«, meint Edward Moya, Markanalyst beim Finanzdaten-Start-up OANDA. »Wie beim Crash am Schwarzen Montag 1987 werden wir auf die Börsenbewegungen dieses Monats zurückblicken als eine weitere fundamentale Veränderung, wie Händler Risiken einpreisen.«
Klar ist: Die Subkultur der Aktien-Millennials bringt etwas Subversives an die Wall Street. Logos, Likes und Memes, die in der schnellen und verkürzten Kommunikation von großer Bedeutung sind, werden plötzlich zu Kurstreibern. Gemeinsames geteiltes Wissen, für alle verfügbar, und massenhafte Absprachen werden zu einem Faktor von Börsenbewegungen. »Kleine Gruppen können reale Macht über unsere Politik und Wirtschaft ausüben, wenn sie bestimmte Techniken verwenden«, erläutert Joan Donovan, Social-Media-Expertin am Harvard Shorenstein Center. Sie sieht bei den wilden Zockern »einen Geist von Chaos und Unbotmäßigkeit«. Aus gutem Grund: »Die Massen spüren die Macht der neuen technischen Ausstattungen und experimentieren viel schneller damit, als die Gesetzgebung reagieren kann.« Donovan prophezeit eine »Zukunft institutioneller Destabilisierung«.
Vielleicht ist die Bedeutung der neuen Aktionäre nicht im Politischen, sondern im Kulturellen zu suchen. Zwar vertritt man das, wofür auch die Hedgefonds angetreten sind: schnell viel Geld zu machen. Aber hier kommt die Botschaft auf verdrehte Weise rüber. Man hält einer Gesellschaft, die einer fragwürdigen Institution wie dem Finanzmarkt die Aufgabe zuweist, für das schnelle Glück und die Alterssicherung zu sorgen, einen Spiegel vor. Der sich bei genauerem Hinsehen als Vexierspiegel erweist.
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