Erderwärmung: Normalisierung des Extremen

Wetterbehörde ändert ihre Berechnungen, um beim Klimawandel noch hinterherzukommen

Schwankungen bei Niederschlägen werden mit dem Klimawandel größer.
Schwankungen bei Niederschlägen werden mit dem Klimawandel größer.

Die Erderwärmung hat ein Tempo eingeschlagen, das mit den herkömmlichen statistischen Methoden nicht mehr adäquat darzustellen ist, sagt Tobias Fuchs, Vorstand Klima und Umwelt des Deutschen Wetterdienstes (DWD). Was zwischen 1881 und 1990 extrem gewesen sei, sei mittlerweile normal. Zugleich nehme die Variabilität von Temperatur und Niederschlag zu. Deshalb hat sich die Wetterbehörde entschlossen, die bisherige Berechnungsmethode für die Republik zu ändern. Ziel ist es, »die dynamischen Änderungen im Klimasystem möglichst genau beschreiben und angemessen kommunizieren zu können«, wie der DWD erläutert.

Seit Messbeginn 1881 wurden die Temperaturveränderungen mithilfe der linearen Regressionsanalyse ermittelt. Dargestellt wird dies in der Zeitreihe bis 2024 mit einer leicht ansteigenden Linie. Betrachtet man hingegen einzelne Perioden, gab es bis Anfang der 1970er Jahre ein geringes Auf und Ab bei den Temperaturen, die seither aber stark in die Höhe gehen. Dies soll die neu verwendete »Klimatrendlinie« besser wiedergeben: Seit den 1970er Jahren lag der Temperaturanstieg pro Dekade bei 0,41 Grad, während es im Gesamtzeitraum seit 1881 im Mittel »nur« 0,13 Grad waren.

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Mit der Veröffentlichung des »Klimastatusberichts 2024« am Dienstag wurde die Trendlinie nun offiziell eingeführt. »Das Ergebnis der neuen Methode ist ernüchternd«, sagte Andreas Becker, Leiter der Klimaüberwachung. Deutschland hat sich demnach im Vergleich zur frühindustriellen Zeit bereits um 2,5 Grad Celsius erwärmt. Bislang ging der DWD von einem Plus von 1,9 Grad aus. Und jedes der vergangenen sechs Jahrzehnte war wärmer als das vorherige.

Bisher erntete die oberste Bundesbehörde mit Sitz im hessischen Offenbach immer mal Kritik, sie untertreibe die Entwicklung. Vorstand Fuchs sagte dazu, der DWD stehe für seriöse Berechnungen und arbeite evidenzbasiert nach internationalen Standards. Man habe sich nach ausführlicher Prüfung sowie Austausch mit anderen nationalen Wetterbehörden und vor allem der UN-Meteorologieorganisation zu dem Schritt entschlossen. An die »Spitze von alarmistischen Gruppen« werde sich der DWD aber weiterhin nicht stellen. »Die Welt ist dieselbe wie vorher«, so Fuchs.

Keine Veränderungen gibt es indes bei den Kurzzeitberechnungen – und auch nicht beim Trend: Das vergangene Jahr war in Deutschland mit im Mittel 10,9 Grad das bisläng wärmste seit Messbeginn. »Erschreckend ist vor allem, dass der alte Rekord aus 2023 gleich um 0,3 Grad Celsius übertroffen wurde«, sagte Andreas Becker, Leiter Klimaüberwachung des DWD. Das sei »aus klimatologischer Sicht absolut außergewöhnlich«. Wie 2023 sorgten auch 2024 ein extrem milder Winter und ein rekordwarmes Frühjahr für diesen Temperaturschub, während ausgeprägte Hitzewellen diesmal ausblieben. Allerdings gab es fast doppelt so viele Sommertage (ab 25 Grad) und fast dreimal so viele heiße Tage (ab 30 Grad) wie üblich. Und noch nie wurden 30 Grad an einem Ort so früh im Jahr gemessen: am 10. April.

Immerhin hat es in den vergangenen beiden Jahren überdurchschnittlich geregnet, sodass sich die Böden von den Dürrejahren erholen konnten. Allerdings betraf das vor allem den Nordwesten, während es in Teilen von Sachsen, Brandenburg und Baden-Württemberg 2024 wieder zu trocken war. Die vergangenen beiden Monate dieses Jahres waren wieder sehr trocken – ob es wieder zu Trockenstress komme, lasse sich aber erst in vier bis sechs Wochen beurteilen. Bei Extremwetterereignissen wie Starkregen und Sturzfluten spricht Becker von einem unruhigen, aber keinem katastrophalen Jahr. Die versicherten Schäden waren mit 5,5 Milliarden Euro aber hoch.

»Extremwetterereignisse sind Zahltage für Versäumnisse beim Klimaschutz.«

Andreas Becker Deutscher Wetterdienst

Prognosen des DWD werden mittlerweile nicht nur bei Wetterwarnungen oder für die Landwirtschaft wichtiger, sondern auch für den Stromsektor. 2024 war nach Angaben von Renate Hagedorn, Leiterin des Bereichs Wettervorhersage, ein durchschnittliches Windjahr und bei der Sonnenstrahlung ein gutes Jahr. Überdurchschnittlich war es aber nur im Osten, während es im Westen und Süden ein Minus gab. Regionale Unterschiede müssten über ein gut ausgebautes deutsches oder europäisches Stromnetz ausgeglichen werden. Das gilt genauso für die gefürchtete Dunkelflaute, wenn die Sonne kaum scheint und der Wind kaum weht. Hier blieb es bei wenigen Tagen. Meteorologin Hagedorn sieht einen engen Zusammenhang mit der Großwetterlage »Hoch Mitteleuropa«. Es sei eine gute Nachricht für die Energiewirtschaft, dass es keinen Hinweis auf markante Veränderungen durch den Klimawandel gebe.

Während die Wetter- und Klimaforschung auch für wirtschaftliche Belange immer wichtiger wird, werden ihr in den USA durch den Machtwechsel Steine in den Weg gelegt. Die Administration von Donald Trump attackiert sie nicht nur verbal, es kommt auch zu Stellenstreichungen, massiven Etatkürzungen und Behinderungen bei der Veröffentlichung von Daten. »Wir machen uns Sorgen«, sagt DWD-Vorstand Fuchs zu dieser Entwicklung. Er sei überrascht, wie schnell die Veränderungen in den USA vonstattengingen, und hält es für falsch, wenn »eine evidenzbasierte Politikberatung nicht mehr den Stellenwert wie früher« habe.

Ob rechte Politiker das Thema ausblenden, ändert freilich nichts daran, dass die Erderwärmung längst gravierende Folgen hat. Auch in Deutschland: Der DWD verweist auf die gesundheitlichen Auswirkungen für vulnerable Gruppen, zum Beispiel durch die verkürzte winterliche Ruhephase für Allergiker. Und auf hohe wirtschaftliche Schäden bei der Infrastruktur, Ernteausfälle, Kosten beim Hochwasserschutz und den steigenden, teuren Bewässerungsbedarf. Oder wie Andreas Becker es ausdrückt: »Extremwetterereignisse sind Zahltage für Versäumnisse beim Klimaschutz.«

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