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Im Hall der leeren Arenen
Ein Jahr Fußball ohne Fans: Die qualvolle Gefühlswelt eines Unioners.
Es ist jetzt ein Jahr her. Am 1. März 2020 habe ich mein letztes Spiel des 1. FC Union Berlin in der Alten Försterei gesehen. Wenn ich das damals gewusst hätte, hätte ich mich behutsamer bemüht, dass die Erinnerungen daran klar und detailreich bleiben. Dann könnte ich sie nun hervorholen: Wie ein präapokalyptisches Bilderalbum, an dem man sich aufrichten könnte. Auch wenn so ein Spiel gegen den VW-Klub aus der Autostadt aus Fansicht eigentlich nicht zum Schwelgen taugt.
Damals war der Fußball Alltag. Ich richtete mein Leben an den Spieltagen aus, auch weitgehend meine Dienstreisen. Das Spiel gegen die Bayern stand an. Freunde aus dem Süden hatten sich angesagt, mit Weißwürsten und Weißbier wollten sie in Oberschöneweide einfallen. Dann natürlich dass Berliner Derby, für das wir uns eine besondere Aktion ausgedacht hatten. Auswärtsspiel ist Auswärtsspiel. Ob in Sandhausen oder in Charlottenburg. Also hatten wir einen Bus bestellt, für 55 Leute, mit dem wir zum Olympiastadion wollten.
Vor Corona plante ich Auswärtsfahrten - zusammen mit Freunden. Man kam verkatert und müde nach Hunderten Kilometern wieder Zuhause an, nicht selten in der Morgendämmerung des neuen Tages. An den Heimspieltagen traf man sich zum Mittag. Als wir noch in der zweiten Liga spielten, auch gerne zum Frühstück. Es ist wahr, dass der Fußball von seinen Mythen, Legenden und Erinnerungen lebt. Aber er ist auch eine berauschende Vergegenwärtigungsmaschine der Jetztzeit, die das Leben mit unvorstellbarer Kraft verdichtet und die eigenen Zellen in ihrem Kern erschüttert. Wer diese Urkraft erfahren hat, kommt schwer davon los.
Kalte Schatten
Deswegen liegt mir nicht viel an Nostalgie. Das habe ich mal wieder bemerkt, als ich Anfang Oktober auf der Haupttribüne der Alten Försterei saß. Es war kalt. Christoph Biermann stellte sein Buch über Unions erstes Jahr in der Bundesliga vor. Konzentrieren konnte ich mich nicht auf die Geschichten aus einer anderen Zeit. Ständig musste ich auf die leere Gegengerade starren, deren Schatten im Abendlicht an mir zogen. Da war mein Platz, wo ich mit Freunden gestanden habe, wo das Bier auf einen hinabregnete, wenn mal wieder ein Tor für uns gefallen war.
Irgendwann im November bin ich einfach losgelaufen. An einem Heimspieltag, der früher ein Kribbeln im Bauch verursachte und nun Leere und Trübsal auslöst, zumindest bei mir. Jeder geht anders mit dieser seltsamen Situation um. Ich bin nicht zu den Spielen gegangen, als nur 4500 Menschen ins Stadion durften. Ich halte auch niemandem vor, dass er dabei war, weil er die Mannschaft unterstützen oder »ein Stück Normalität« erleben wollte. Aber in mir hat sich alles gesträubt, diese Erfahrung machen zu wollen. Ich hatte wohl auch ein wenig Angst davor.
Mitmachen und Einmischen
Beim Fußball interessierte mich nie vor allem das Geschehen auf dem Platz, besonders schöne Kombinationen oder taktische Glanztaten. Natürlich liebe ich das Spiel, seine Unberechenbarkeit, die einen zuweilen an das Leben selbst erinnert. Viel wichtiger ist mir die Gemeinschaftserfahrung, das soziale Miteinander, zu dem der Fußball Anlass gibt. Und dabei geht es nicht nur ums Saufen, wie man unterstellen könnte. Die Liebe zu einem Verein bringt die unterschiedlichsten Menschen dazu, etwas zusammen zu machen: seien es Choreografien, soziale Projekte, Konzerte, Bücher, Lesungen, Diskussionen zur eigenen Geschichte. Es geht um Eigeninitiative, Selbstorganisation, Kreativität, um das Mitmachen und Einmischen - letztlich um die Möglichkeit, sich innerhalb eines bestimmten Rahmens ausleben zu können und dies anderen ebenso zu ermöglichen. Bei all dem soll Fußball auch Alltag vergessen lassen können.
Diese Liebe verbindet, nicht über alle Grenzen hinweg, aber sie ist doch so stark, dass sie vielen die Kraft gibt, die eigenen Komfortzonen zu verlassen, um anderen die Hand zu reichen. Wo sonst in unserer nach moralischen, emotionalen und sozialen Kategorien weitgehend eingehegten Gesellschaft wird man noch mit dieser Wucht an Lebensverdichtung konfrontiert?
Wenn all das weiterhin existieren soll, muss man mitmachen - und verhindern, dass der Profifußball nur nach ökonomischen Maßstäben geregelt wird. Er erwirtschaftet Milliarden. Und das ist nur möglich, weil Fans darin mehr sehen als den Schuss aufs Tor. Unsere Emotionen sind die Motoren dieses irren Geschäfts. Man gibt einen Teil von sich. Und dafür soll man noch nicht mal erwarten können, dass die eigenen Erwartungen und Befürchtungen von Funktionären ernst genommen werden - und zwar auf Augenhöhe?
Nein, die »Taskforce Zukunft Profifußball« der Deutschen Fußball-Liga (DFL) ist kein Beweis dafür, dass es nun besser läuft. Ganz im Gegenteil. Dutzende Fans haben im vergangenen Sommer in ihrer Freizeit in einer eigenen Arbeitsgruppe »Zukunft Profifußball« detaillierte, konstruktive Konzepte zur Fernsehgeldverteilung, zum Salary Cap, zur Mitsprache in den Vereinen und vielem anderen erarbeitet. Das offizielle Ergebnis, also das der DFL, ist aber nicht mehr als eine blumige Bekundung darüber, dass man es ja irgendwann mal mit ein paar Reförmchen probieren könne. Womöglich. Vielleicht.
Die Last der Träume
Große Hoffnung hatte auch ich nicht, dass es der Profifußball mit der Demut der ersten Coronawelle ernst meinte. Dass Großverdiener wenig Interesse haben, mehr Demokratie zu wagen? Klar. Vielleicht ist es richtig, dass Fußballer, Berater und Co. Millionen verdienen, weil sie die ungeheure Last unserer Träume und Sehnsüchte zu verwalten haben. Aber: Wie viel Entrücktheit verträgt dieser Sport? Und wie viele Widersprüche hält unsere Liebe aus? Christoph Ruf hat in dieser Zeitung diese unbequeme Frage gestellt: »Wer glaubt, dass sich daran je etwas ändern wird, braucht jetzt wirklich sehr gute Argumente. Oder ist einfach die Angst zu groß, wirklich mal die Konsequenzen aus der ständig ins Leere laufenden Kritik zu ziehen?«
Ich kann nicht vollends nachvollziehen, warum ich im November plötzlich in Richtung Alte Försterei losstapfte. Es sind viele Fragen, die seit vielen Wochen durch den Kopf wummern. Auch vor Corona wussten wir, was für ein aberwitziger Zirkus der Profifußball ist. Aber da gab es noch die Emotionen, die einen im Stadion mit den anderen und dem Spiel verbanden. Viele sitzen nun mit ihrem Schal vor dem Fernseher - die letzte Verbindung zu dem, was einst war. Mir fällt das schwer. Auch weil das Fernsehen den Sport hochgejazzt hat, zu diesem knallbunten Hochglanzprodukt. Noch schlimmer aber ist, die Stimmen der Spieler und Trainer zu hören, dieses Rufen im Hall der leeren Arenen.
Leere, suchende Augen
In Oberschöneweide, dem Ursprungsort des FCU, laufe ich los, vorbei an den hohen Kaminen und Fassaden der alten Fabrikanlagen. Dann entlang der Wuhlheide. Manchmal begegne ich anderen Unionern, die ebenfalls durch die Gegend irren. Mit seltsam leeren und suchenden Augen. Manchmal ist zwei Stunden vor Spielbeginn aber auch kaum jemand unterwegs. Der Waldweg ist leer, unser Treffpunkt am Stadion auch. Ich laufe meistens einmal um die Alte Försterei herum. Zeitweise ist es beklemmend, durch diese Leere zu staksen, wie jemand, der im Nebel einen Weg sucht und dabei Gefahr läuft, sich selbst zu verlieren. Ich kann nicht sagen, was ich suche. Alte Erinnerungen? Hoffnung, dass alles wieder so wird wie früher? Beschwichtigung für die quälenden Fragen?
Neulich habe ich auf einem dieser Spaziergänge Ronny getroffen, auch ein Unioner, den ich schon lange nicht mehr gesehen hatte. Als wir uns erblicken, löst sich der stumpfe Brei in meinem Kopf plötzlich auf. Mein Gesicht erstrahlt, auch seins, als seien wir auf unheimliche Art miteinander verbunden. Dann plappern wir los, euphorisch, wie früher. Wie geht’s? Ach, Scheiß Corona. Union fehlt. Wenn wir doch nur wieder ins Stadion könnten. Wir fehlen. Wir fehlen uns. Wird schon. Hoffentlich. Es ist wie die erste Begegnung zweier kleiner Kinder, die sich selbst in ihrem Gegenüber erkennen - und so begreifen, dass sie nicht alleine sind.
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