Millionen Patienten fallen durchs Raster

Durch den Fokus auf die Bekämpfung der Corona-Pandemie geraten andere tödliche Krankheiten noch mehr aus dem Blick

  • Michael Lenz
  • Lesedauer: 4 Min.

Corona, Corona, Corona - seit einem Jahr bestimmt das winzige Virus weltweit Leben, Politik und Wirtschaft. Milliarden werden in die Erforschung von Medikamenten gesteckt; in Rekordzeit wurden Impfstoffe entwickelt. Andere gefährliche Krankheiten, die ebenfalls nicht nur die Gesundheit, sondern auch die soziale und kulturelle Lebensqualität sowie die Existenzgrundlagen von Millionen Menschen bedrohen, werden hingegen noch weniger beachtet, als es schon vor Corona der Fall war. Experten sprechen von »vernachlässigten tropischen Krankheiten«, im internationalen Sprech »Neglected Tropical Diseases« (NTD) genannt.

1,7 Milliarden Menschen erkranken weltweit an solchen Krankheiten und weitere zwei Milliarden sind von ihnen bedroht. Schätzungen zufolge stirbt jährlich eine halbe Million Menschen direkt oder indirekt an NTDs. Betroffen sind insbesondere die ärmsten Teile der Bevölkerungen in den ohnehin armen Ländern.

Vor wenigen Tagen veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Zehnjahresplan zur Ausrottung der 20 schlimmsten NTDs wie Dengue, Leishmaniose, Flussblindheit oder Lepra. »Wenn wir die Geißel vernachlässigter Tropenkrankheiten beenden wollen, müssen wir die Dinge dringend anders angehen«, mahnt WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus. »Dies bedeutet, neue Energie in unsere Bemühungen zu stecken und auf neue Weise zusammenzuarbeiten, um allen, die sie brauchen, Prävention und Behandlung für all diese Krankheiten zu ermöglichen.«

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen begrüßte die Initiative der WHO. In einem soeben veröffentlichten Report mit dem Titel »Keine vernachlässigten Krankheiten mehr, keine vernachlässigten Patienten mehr« äußern die Experten aber zugleich die Befürchtung, die Erfolge der vergangenen Jahre bei der Bekämpfung der NTDs könnten durch die Covid-19-Pandemie teilweise zunichte gemacht werden. Für viele dieser Krankheiten gebe es keine Impfstoffe, die diagnostischen Instrumente seien begrenzt und Therapien oft nicht verfügbar oder unerschwinglich, hieß es in dem Report der Organisation.

Dabei gibt es großen Bedarf, auch wenn es um Krankheiten geht, von denen man hierzulande noch nie etwas gehört hat. Zum Beispiel die Infektionskrankheit Kala Azar, deren aus dem Hindi kommende Name übersetzt »Schwarzes Fieber« heißt. An dieser durch Parasiten ausgelösten Krankheit, unter Medizinern als viszerale Leishmaniasis bekannt, leiden jährlich zwischen 700 000 und einer Million Menschen, von denen mangels Behandlung zuletzt etwa 25 000 bis 65 000 starben.

Die WHO, die Ärzte ohne Grenzen und andere Organisationen haben dank Medikamentenspenden von Pharmafirmen in den vergangen drei Jahrzehnten einige Erfolge in der Bekämpfung von NTDs erzielt. Diese seien jedoch durch Naturkatastrophen, Vertreibungen, Klimawandel und aktuell durch den Fokus auf Corona gefährdet. Programme seien unterbrochen, sowieso schon fragile Gesundheitssysteme noch mehr geschwächt worden, klagen die Ärzte ohne Grenzen. Zudem gebe es »Alarmsignale«, dass eigentlich für NTDs bestimmte finanzielle Ressourcen umgeleitet oder gestrichen würden. Mit Sorge blickt die Organisation auch auf die Prioritäten der Pharmaindustrie: »Bei diesen stagniert seit einem Jahrzehnt die Finanzierung für Forschung und Entwicklung bei NTDs und das trotz einer drastischen Erhöhung der weltweiten Mittel für die Grundlagenforschung und Produktentwicklung für Krankheiten, die Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen betreffen«, heißt es in dem Report. Weil aber die NTDs hauptsächlich die Ärmsten der Armen »mit extrem eingeschränkten finanziellen Ressourcen« beträfen, habe der private gewinnorientierte Sektor weiterhin nur ein sehr begrenztes Interesse an der Entwicklung neuer Mittel.

Und dann gibt es auch noch lebensbedrohliche tropische Krankheiten, die selbst von den offiziellen internationalen Gesundheitsprogrammen ignoriert werden. Zum Beispiel Noma: Die bakterielle Erkrankung, die durch eine Schwächung des Immunsystems als Folge von Unter- oder Mangelernährung hervorgerufen wird, führt zur Zerstörung von Mundschleimhaut, Gesicht und Knochen. Noma betrifft hauptsächlich Kinder unter fünf Jahren. Unbehandelt sterben jährlich rund 90 000 Kinder an dieser Krankheit. Frühzeitig erkannt könnte Noma jedoch schon durch antiseptische Mundspülungen sowie gesunde, vitaminreiche Kost leicht geheilt werden. »Ein Bewusstsein für Krankheiten, die nicht auf der NTD-Prioritätenliste stehen, zu schaffen und für diese Unterstützung zu bekommen, sollte gleichermaßen wichtig sein«, fordern die Ärzte ohne Grenzen. »Damit kein Patient mehr durch das Raster fällt.«

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