Tschechien erneuert Corona-Notstand
Infektionszahlen explodieren, aber die Menschen wollen die Einschränkungen nicht mehr mittragen
In einem dramatischen Appell wandte sich Tschechiens Regierungschef Andrej Babiš (ANO) an die Bevölkerung. Die Lage im Lande sei derzeit so angespannt, dass man alles unternehmen müsse, um Leben zu retten, um ein »tschechisches Bergamo« zu verhindern. Babiš blickte auf das vergangene Jahr zurück: Am 20. März, als der erste Notstand ausgerufen wurde, gab es 22 Corona-Infizierte, drei Menschen lagen mit der Erkrankung im Hospital, niemand war dahin gestorben. Diese Situation hat sich im Verlauf eines Jahres dramatisch verändert: Heute liegen 7266 Patienten in den Kliniken, die Gesamtzahl der Fälle ist auf 1 227 595 gestiegen, mehr als 20 000 Menschen sind an oder mit der Coronainfektion verstorben. Die Regierung zeigte sich über die neue Entwicklung äußerst besorgt. Tschechien mit seinen etwa 10,7 Millionen Einwohnern verzeichnet derzeit eine 7-Tage-Inzidenzzahl von 759 Neuinfektionen auf 100 000 Einwohner.
Ab dem 1. März gelten im Lande wieder verschärfte Hygienemaßnahmen. Hierzu gehören sowohl nächtliche Ausgangssperren als auch Bewegungseinschränkungen am Tage. Außer für dringliche Wege - zur Arbeit, zum Arzt oder zur Apotheke - dürfen die Wohnstätten nur noch im Umkreis von 500 Metern verlassen werden. Für den Einzelhandel und die Gastronomie gilt ein völliger Lockdown. Überall im Land herrscht Maskenpflicht, Schulen und Universitäten bleiben geschlossen.
Die neuerlichen Maßnahmen sollen nun bis zum 28. März gelten. Premier Andrej Babiš appellierte an die Bevölkerung, die Maßnahmen dringend einzuhalten, es gehe jetzt darum, viele Menschenleben zu retten. Viele Krankenhäuser sind an ihren Kapazitätsgrenzen angelangt. Babiš sprach von »Höllentagen«, die einige Intensivstationen jetzt durchzumachen hätten. Trotz eigentlich sinkender Krankenhausfallzahlen häufen sich die schweren Verläufe, sodass einige Intensivmediziner vor der Entscheidung stehen, wer behandelt werden soll.
Trotz dieser dramatischen Lage wächst der Unmut in der Bevölkerung. Viele Menschen sind nicht mehr bereit, Verständnis für die schwankende Politik der Regierung aufzubringen. Prag hatte zwar die erste Coronawelle bravourös gemeistert, dann jedoch zu früh und zu weit geöffnet. In der Folge musste im vergangenen Oktober ein zweiter Lockdown angeordnet werden, der dann zu Weihnachten wieder gelockert wurde. Zu Jahresbeginn rief die Regierung erneut den Notstand aus. Der wurde indes am 11. Februar vom Parlament ausgesetzt - bei der Abstimmung erhielt die Koalition nicht die erforderliche Mehrheit. Nun setzte sich das Kabinett Babiš über den Parlamentsbeschluss hinweg und erließ erneut den Notstand. Umfragen zufolge sind allerdings ein Drittel der Tschechen nicht bereit, den Anordnungen zu folgen. Prag kündigte an, die Maßnahmen streng von der Polizei kontrollieren zu lassen und zusätzlich 5000 Soldaten zur Überwachung einzusetzen.
Wie in den meisten EU-Staaten, so sind auch in Tschechien die von der europäischen Arzneimittelbehörde EMA zertifizierten Impfstoffe von Pfizer/Biontech, Moderna und Astra-Zeneca rar. Die Statistiken verzeichnen zwar, dass die bereits geimpften Älteren weniger an Covid-19 erkranken, jedoch immer mehr Jüngere unter 65 zum Teil schwere Krankheitsverläufe aufweisen.
Die Gegenstrategie - mehr testen, mehr impfen - lässt sich nur zum Teil durchsetzen. Staatspräsident Milos Zeman hatte sich bereits mit seinem Moskauer Amtskollegen Wladimir Putin über die Lieferung des russischen Impfstoffs Sputnik V verständigt. Von der Burg hieß es, die Prüfung der staatlichen Arzneimittelbehörde SUKL reiche aus, um das Vakzin in Tschechien zuzulassen. Experten erklärten, dass Sputnik V auch gegen die Mutanten wirksam sei. Derzeit sind 70 Prozent der in Tschechien positiv auf Corona Getesteten mit dem hoch ansteckenden Virus B 117 infiziert, das erstmals auf der britischen Insel nachgewiesen wurde. Diese besonders aggressive Form des Coronavirus ist für die rasante Ausbreitung hierzulande verantwortlich. Virologen gehen davon aus, dass binnen kurzer Zeit B 117 die anderen Varianten verdrängen wird. Um der Coronalage Herr zu werden, haben die politisch Verantwortlichen nun bei den europäischen Nachbarn um Hilfe ersucht.
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