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  • Corona und soziale Folgen

Gestern, heute - und morgen?

Seit einem Jahr herrscht Corona. Zu viel Zeit ist noch schlimmer als keine Zeit: Annekatrin Hendels Lockdown-Selbstbeobachtung »Vertreibung ins Paradies«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Pandemie ist ein Jahr alt und wird historisch. Das spürt man in jeder Muskel- und Nervenfaser, wenn man Annekatrin Hendels filmische Lockdown-Selbstbeobachtung im Kreise ihrer Familie (umkreist von ihr!) sieht. Das war im vergangenen März, da hörte das normale Arbeiten für sie als Filmregisseurin und Produzentin mit einem Schlag auf. Eine Dokumentation über alte Eiskunstläufer war geplant, die Vorbereitungen liefen seit einem Jahr, die Finanzierung schien gesichert - und dann die Vollbremsung: Die beteiligten Sport-Senioren gehören sämtlich zur Risikogruppe. Also bleibt nur warten, dass es bald wieder weitergeht. Aber irgendwann, so scheint es inzwischen, verschluckt das Warten nicht nur die Erwartung, es verdaut sie auch, scheidet sie aus.

Diesen Film zu sehen und zu wissen, das hier Gezeigte ist nun schon so verdammt lange her, dass man es kaum mehr einordnen kann, hat etwas Irritierendes. Denn es ist zugleich immer noch unsere Gegenwart. Von dieser Merkwürdigkeit lebt diese höchst alltägliche Selbstbeobachtung, sie kreist inmitten der Ereignislosigkeit. Aber gibt es denn im Moment noch etwas anderes als Alltag? Der Moment scheint ewig und birgt somit etwas Poetisches, das es erst noch zu entdecken gilt.

Und so geht Annekatrin Hendel, bekannt geworden mit ihren »Verräter«-Filmen über Paul Gratzik und Sascha Anderson, über die Brasch-Familie oder auch Rainer Werner Fassbinder, in »Vertreibung ins Paradies« auf die Spurensuche. Verrät der Alltag inmitten der Corona-Ausnahmesituation etwas über uns, das wir noch nicht wussten? Doch im Moment, scheint es, wollen wir so etwas lieber gar nicht wissen. Gut konserviert lässt es sich später einmal vielleicht anhand dieses Materials erforschen.

Eigentlich beginnt unser Menschsein mit der Vertreibung aus dem Paradies. Der Sündenfall wird zur Initialzündung für Erkenntnis aller Art. Und nun, zurück ins Paradies, damit auch der Verlust von Erkenntnis, drastisch gesagt: die Verblödung und Verrohung in Isolation?

Eine Spurensuche in Schwarz-Weiß mit Kamera am Frühstückstisch. Gibt es denn noch einen triftigen Grund aufzustehen? Alle Termine habe sich doch erledigt, alle Projekte sind begraben. Noch wohnen wir komfortabel, aber bald vielleicht schon unter der Brücke. Bloß nicht dran denken, überhaupt nicht mehr denken. Konversation findet statt, wenn auch auf schlaftrunkene Weise und durchaus spärlich: »Was ist heute für ein Datum?« - »Keine Ahnung, wir haben kein Datum mehr.« Gäbe es Beckett nicht schon, man müsste ihn erfinden.

Frappierend beim Betrachten dieser schwer erträglichen Ereignislosigkeit ist, dass wir dann doch erfahren, wann dies gesagt wurde. Lassen wir Stunden und Tage beiseite und beschränken uns auf den Monat: März. Man rätselt am Küchentisch, ob der Spuk im April endlich vorbei sein könnte - und spricht vom vergangenen Jahr! Das wirkt inzwischen so gespenstisch wie die ahnungslosen Frontsoldaten im Sommer 1914, die unter allgemeinem Jubel an die Front zogen und riefen: »Weihnachten sind wir zurück!« Welches Weihnachten? Und für wie viele Übriggebliebene?

Haus und Grundstück sind nicht gerade klein, aber nicht groß genug für die eingekauften Vorräte der fünfköpfigen Familie. Die Tochter ist mit ihrem spanischen Freund gekommen, der sich - derart interniert in Brandenburg - sichtlich unwohl fühlt (und schließlich davonmacht). Der Sohn sitzt zumeist am Computer und sagt, das müsse der Schule wegen sein. Überprüfen kann (will) das niemand hier. Draußen an der Hauswand stapeln sich Flaschen, Gläser und Dosen, nachts umkreist von Füchsen und einer Rotte Wildschweine.

Was passiert, wenn nichts mehr passiert? Die innere Betriebstemperatur steigt, eine Art Gruppenfieber wird spürbar. Man erhitzt sich nicht erst, man ist es dauerhaft - und gleichzeitig apathisch und unendlich müde. Sollte das irgendwann einmal vorbei sein, müsste man es den Nachkommen zeigen: So schnell baut der Mensch ab, was er bis dahin mühsam aufbaute. Wie erhält man dennoch Geist und Witz, Takt und Charme?

Man redet, heute wie gestern, vor allem über das, was man essen wird - oder auch keinesfalls essen wird, weil man es ohnehin noch nie mochte oder aber in letzter Zeit bereits zu oft gegessen hat. Ein Stadium sozialer Degeneration, das wir alle teilen. Wer will Peter Sloterdijks eigentlich ziemlich zweifelhafte These, dass die Welt eine Blase sei, jetzt noch bestreiten? Wir leben im Modus des passiven Hinnehmens - mit gelegentlichen aggressiven Schüben von Auflehnung: »Ich will jetzt aber nicht Fahrrad fahren!« Das klingt plötzlich so erbittert, als stünde die Existenz Gottes zur Diskussion. Wer ist schon noch imstande, sich dazu sachkundig zu äußern? Früher vielleicht, doch jetzt?

Zu viel Zeit zu haben, lehrt uns dieser Blick mit Annekatrin Hendel in den Familien-Lockdown, ist noch schlimmer, als keine Zeit zu haben. Während Letzteres zumindest die Sehnsucht nach mehr Zeit wachhält, weckt Ersteres nur noch eines: die Schläfrigkeit als Zustand tumber Paradiesvergessenheit, den simplen Überdruss an der Welt, an sich selbst.

Aber Familie Hendel schlägt sich gut vor der Kamera, was heißt: Sie schlägt sich natürlich nicht, sie wird nur in den mit Trägheit kämpfenden Wortwechseln manchmal allzu schlagfertig. Dafür erfand man einst das Wort »zynisch«. Wie sagt der Ehemann, der sich hier zum Objekt des Gefilmtwerdens degradiert sieht: »Wir filmen unser ganzes Leben, und dann sehen wir uns auf unendlich vielen Festplatten, die das ganze Haus füllen, unser Leben an.« So ungefähr. Es ist das Schicksal im digitalen Zeitalter, das eines der endlosen Zeitschleifen sein wird.

Abrufbar in der RBB-Mediathek. Wird am 17.3. auf RBB um 23 Uhr gesendet.

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