SPD, du Opfer!

Es ist wie verhext: Trotz Mindestlohn, Grundrente und mehr Kindergeld bleibt die SPD im Umfragetief. Warum werden ihre Erfolge nicht wertgeschätzt?

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 5 Min.

Ich bedauere, dass es mir mein hohes Staatsamt verbietet, den Kerlen selbst eins auf die Fresse zu hauen. Früher auf dem Bau hat man solche Dinge mit der Dachlatte erledigt.« Das Raubein, das hier sprach, war hessischer Ministerpräsident und mochte keine Demonstranten, zumindest nicht an der für den Frankfurter Flughafen geplanten Startbahn West. Denn Holger Börner gehörte zu jener Generation von Sozialdemokraten, für die das Wort »Fortschritt« noch positiv besetzt war. Der Betonfacharbeiter hatte sich hochgeschuftet, erst auf dem Bau, dann in Gewerkschaft und Partei. Das prägte. Sozialer Aufstieg war für ihn kein abstraktes Wahlversprechen, sondern sein eigenes Leben.

Dies verband ihn mit anderen führenden Sozialdemokraten. Die Bundesminister Georg Leber (Maurer), Egon Franke (Schreiner) und Walter Arendt (Bergmann) hatten ähnliche Karrieren hingelegt. Aus dem Gefühl, das scheinbar Unmögliche erreicht zu haben, erwuchs ein grenzenloser Zukunftsglaube. Der Blick ging nach vorn: »Wir schaffen das moderne Deutschland.« Mit diesem Slogan zog die SPD in den Bundestagswahlkampf 1969. Und die Botschaft kam an. Die Arbeiter und kleinen Angestellten, die wie Börner und Co für sich und ihre Kinder ein besseres Leben wollten, machten ihr Kreuz bei den Sozis.

Die SPD lieferte. Sie führte ein großzügiges Bafög ein, auch für arme Oberstufenschüler. Das Kindergeld wurde ab dem dritten Spross versechsfacht, von 25 Mark (1969) auf 150 Mark (1978). Um die Vermögensbildung von Arbeitnehmern zu forcieren, verdoppelte man die monatliche Sparförderung von 26 auf 52 Mark. Ein neues Betriebsverfassungs- und Mitbestimmungsgesetz stärkte die Gewerkschaften und ihre Mitsprachemöglichkeiten. All diese Maßnahmen trugen dazu bei, dass Beschäftigte mehr Macht und Geld erlangten.

Für solche Erfolge hatten die 68er und ihre jüngeren Geschwister, die 78er, nichts übrig. Diese Mittelschichtskinder wussten nichts über die Arbeiterklasse, über deren Stolz und Selbstbewusstsein. Als Jungakademiker sahen sie in jenen, die allmorgendlich in die Fabriken und Büros strömten, nur eine Masse, die es zu agitieren galt. Als die plumpe intellektuelle Anmache nicht fruchtete, traten die einen den Weg in den Untergrund und die anderen den Marsch durch die Institutionen an. Auch durch die SPD. Nach und nach übernahmen die Politikwissenschaftler und Lehrerinnen, die Soziologinnen und Juristen das Ruder.

Einer von ihnen war der Unternehmersohn Olaf Scholz, der als 17-Jähriger den Jusos beitrat. Diese Art des pubertären Aufbegehrens - Vater macht im Kapitalismus Karriere, Sohn rebelliert dagegen - war in den 70ern weitverbreitet. Während die Arbeiterkinder »Bravo« lasen und vom Glamour träumten, der in ihrem Leben fehlte, durchlief der Bildungsbürgernachwuchs einen Crashkurs in Marxismus. Das reichte, um unverdaute Parolen nachzuplappern. Auch Olaf Scholz nahm den Mund gern voll. Die von der Mutterpartei regierte, vergleichsweise soziale Bundesrepublik brandmarkte er als »europäische Hochburg des Großkapitals«, und wie so viele Jusos forderte er »die Überwindung der kapitalistischen Ökonomie«.

Dieses spätpubertäre Maulheldentum blieb folgenlos. In dem Maß, in dem der politische Aufstieg gelang, schwand die Lust am Klassenkampf. Der adoleszente Trotz wich dem Verständnis für die Zwänge des Lebens. Die Kinder der Bourgeoisie schlossen Frieden mit ihren Eltern - und dem politischen System. Nach und nach wurde die SPD zum Sammelbecken der zufriedenen Mittelschicht. Auf diese Weise entstand die paradoxe Konstellation, dass in der »Partei der kleinen Leute« eben diese ins Hintertreffen gerieten. Nur vereinzelt verirrt sich heute noch ein Kfz-Mechaniker oder eine Verkäuferin in die SPD-Fraktion.

Dadurch hat sich das Politikverständnis von Sozialdemokraten grundlegend verändert. Frühere SPD-Funktionäre konnten sich darauf berufen, dass sie für die Interessen ihrer Klasse eintraten - auch der Arbeiterführer war einst Arbeiter gewesen. Daraus erwuchs Glaubwürdigkeit. Diese Authentizität fehlt heutigen SPD-Leitfiguren. Ihrem Engagement für mehr Wohngeld und weniger Hartz-IV-Sanktionen haftet etwas Gönnerhaftes an. Der sozialdemokratische Akademiker sendet Signale in ein ihm fremdes Universum und hofft, dass diese die Empfänger erreichen.

Ohne Erfolg, wie die Wahlergebnisse zeigen. Die Lebenswelten sind zu weit voneinander entfernt. Das war mal anders. Den westdeutschen Neubaugebieten der 60er und 70er Jahre lag der emanzipatorische Gedanke zugrunde: »Alle Menschen werden Brüder und deshalb gefälligst auch Nachbarn.« Also setzte man Hochhäuser (Unterschicht), Reihenhäuser (Mittelschicht) und Bungalows (obere Mittelschicht) nebeneinander auf die grüne Wiese. Das sorgte für einen - nicht immer gewaltfreien - Austausch der unterschiedlichen Milieus.

Heute findet der nicht mehr statt. Die Stadtteile sind in sich geschlossener. Im gentrifizierten Altbauviertel mit Edel-Japaner und italienischer Bio-Feinkost versteht man unter »Multikulti« etwas anderes als im sozialen Brennpunkt. Diese Kluft spüren die wirtschaftlich Benachteiligten. Sie nehmen dem Lehrerkind Hubertus Heil die kämpferischen Parolen nicht ab. Denn sie wissen: Wer hier die Backen aufbläst, ist kein Leidens-Genosse, sondern ein Privilegierter, der von oben herab Almosen verteilt und dafür Dank erwartet.

Dieser unausgesprochene Deal - »wir geben euch Geld, ihr gebt Ruhe« - degradiert die finanziell Schwachen zum Objekt der Wohlfahrt, zu Opfern. Weil diese aber nicht als solche wahrgenommen werden wollen, verweigern sie, die eigentlich Stammwähler sein müssten, der SPD ihre Stimme. Die Partei ist ein Opfer ihrer Politik.

Daran wird das kürzlich vorgestellte Wahlprogramm nichts ändern. Es ist ein vertrautes Ritual: Pünktlich zum Wahlkampf verwandeln sich Sozialdemokraten in Klassenkämpfer und kramen alte Hüte hervor. Zum Beispiel die Vermögenssteuer. Die begehrt die SPD seit 1998. Doch in 19 Regierungsjahren gelang es ihr nicht, die Steuer wieder einzuführen. Was nur den Schluss zulässt: Entweder fehlt es der Partei an Durchsetzungsvermögen oder -willen. Aufbruchsstimmung baut man dadurch nicht auf.

Wie man’s richtig macht, demonstrierte einst Georg Leber. Der vermittelte seinen Wählern, dass der Aufstieg, den er selber geschafft hatte, auch für sie möglich wäre. Er appellierte an junge Menschen: »Lernt, was ihr für euer Leben nötig habt! Geht nicht gebückt und gebeugt, geht aufrecht wie Freie!« Vielleicht wäre dies ein Anfang für die SPD: Jene, für die sie vorgibt zu kämpfen, endlich ernst zu nehmen.

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