Protestbewegung ist zurück auf Algeriens Straßen

Die friedlich demonstrierenden Menschen fordern eine neue Verfassung, nicht nur die in Aussicht gestellte vorgezogene Neuwahl

  • Claudia Altmann, Algier
  • Lesedauer: 3 Min.

Knapp einen Monat nach den Demonstrationen anlässlich des zweiten Jahrestages der algerischen Protestbewegung (22. Februar) steht fest: Die Protestbewegung, arabisch »Hirak«, ist zurück und bringt jede Woche zehntausende Menschen auf die Straße. Auch wenn die Teilnehmerzahlen nicht mit den Millionen Demonstrierenden von 2019 vergleichbar sind, hat die Bewegung nichts an Entschlossenheit verloren und hat Erfolg: Nicht nur, dass sie im April 2019 Langzeitpräsident Abdelaziz Bouteflika aus dem Amt gejagt hat; zudem ist die Bewegung auch in der Öffentlichkeit präsent - trotz Versammlungsverbots. Diese Tatsache muss die Führung des Landes wohl oder übel in ihr Kalkül einbeziehen. Für Staatspräsident Abdelmadjid Tebboune, der seit seiner Wahl im Dezember vergangenen Jahres stets vom »gesegneten Hirak« spricht, sind dessen Forderungen »weitestgehend« erfüllt. Indes ist bei den regelmäßigen Demonstrationen am Freitag und Dienstag eine andere Botschaft zu hören. Statt der vom Staatspräsidenten anberaumten vorgezogenen Parlamentswahlen verlangen die Menschen einen radikalen Bruch mit dem alten System. Sie bestehen auf einer verfassungsgebenden Versammlung. Die Proteste sind zugleich eine Reaktion auf widersprüchliche Signale der Machthaber. Zwar hatte der Staatschef kurz vor dem Jahrestag dutzende politische Gefangene amnestiert. Gleichzeitig jedoch war die Polizei bei den ersten Demonstrationen erneut gewalttätig gegen die friedlich Demonstrierenden vorgegangen und hatte Hunderte festgenommen.

Die UNO-Menschenrechtskommission zeigte sich dieser Tage »sehr beunruhigt« wegen der »anhaltenden und zunehmenden Repression gegen die demokratische Protestbewegung Hirak«. Nach Angaben ihres Sprechers Rupert Colville befinden sich derzeit 32 Personen wegen ihrer Meinungsäußerungen in Haft. »Uns liegen Berichte vor von Gefangenen über Folter und unwürdige Behandlung, einschließlich sexueller Übergriffe«, teilte dieser mit. Im Februar war der Regimekritiker Walid Nekkiche nach seiner Freilassung mit dem Vorwurf körperlicher und sexueller Misshandlung an die Öffentlichkeit gegangen. Der 25-jährige Student hat damit ein Tabu gebrochen, was einen landesweiten Aufschrei ausgelöst hat. Ein von Anwält*innen, Journalist*innen und Menschenrechtler*innen gegründetes »Komitee gegen Folter« fordert eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle. Als kaum vertrauensbildend hat die Bevölkerung auch eine Ankündigung von Justizminister Belkacem Zeghmati aufgenommen. Dieser arbeitet an einem Gesetzentwurf, um regimekritische Algerier*innen im Ausland ausbürgern zu können: eine unmissverständliche Drohung gegen die Millionen in der Diaspora Lebenden, von denen viele den Hirak unterstützen.

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In diesem Klima eingeschränkter politischer Freiheiten blicken viele Menschen skeptisch auf die für Ende Juni geplanten Wahlen. Die Befürchtung ist groß, dass auch diese Abstimmung weder transparent noch fair ablaufen könnte. Die Bewegung steht daher vor der Frage, ob und wie sie sich zur politischen Agenda der Machthaber positionieren soll. Der Vizepräsident der Algerischen Menschenrechtsliga (LADDH), Said Salhi, will den Druck der Straße in konkrete politische Aktionen münden sehen. Er fordert eine nationale Konferenz des Hirak. »Das ist die einzige Perspektive, um den wieder begonnenen friedlichen Märschen auch eine politische Fortsetzung zu geben. Nur so können wir einen demokratischen und friedlichen Übergang zu einem zivilen, demokratischen, sozialen Rechtsstaat durchsetzen«, schrieb er. Nur: Ist die Staatsführung zu einem Dialog bereit? Nach Ansicht der regierungskritischen Zeitung »El Watan« täte diese zunächst gut daran, ihre bisherige »katastrophale Strategie der Repression« aufzugeben. Sie sollte »im Hirak nicht mehr einen Feind sehen, den es zu beseitigen gilt, wo er doch ein unverhoffter Verbündeter sein kann bei der Errichtung eines Staates und einer Gesellschaft in Richtung Moderne«, so der Kommentator.

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