Unermessliches Leid in Syrien

Das Kinderhilfswerk Unicef zeichnet ein dramatisches Bild nach zehn Jahren Krieg und Zerstörung

  • Karin Leukefeld
  • Lesedauer: 4 Min.

»Vor dem Krieg haben wir uns immer sicher gefühlt, wenn wir draußen waren«, hört man die Stimme der 12-jährigen Saja aus Aleppo. »Wir waren sicher, dass uns nichts passieren kann. Es war wunderschön. Meine Freunde starben, als ich verletzt wurde. Ich habe mein Bein verloren.«

Die 12-jährige Saja trägt ein weißes Tuch eng um den Kopf geschlungen. Sie sieht sich auf einem Bildschirm Aufnahmen aus der Zeit nach ihrer Verletzung an. Das linke Bein ist bis zum Knie amputiert, sie sitzt auf einer Mauer, an die sie ihre Krücken gelehnt hat. Saja beobachtet Kinder, die Fußball spielen und in der nächsten Sequenz ist das Mädchen zu sehen, wie sie geradezu akrobatisch auf ihren Krücken balanciert und mit dem gesunden Bein den Ball hoch in die Luft kickt. »Wenn ich Fußball spiele, habe ich nicht das Gefühl, dass ich etwas verloren habe, dass mir etwas fehlt«, sagt Saja und begleitet den Zuschauer weiter für kurze 90 Sekunden durch einen Videoclip, den Unicef am Mittwoch in Berlin auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Bundesentwicklungsminister Gerd Müller zeigte.

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Zu sehen ist, wie die älter werdende Saja mit Prothese unermüdlich übt, um weiter Fußball spielen zu können. Die letzten Bilder zeigen die 18-Jährige mit dem Ball unter dem Arm. »Ich möchte Literatur studieren und Sportlehrerin werden«, sagt sie. Die Kamera folgt ihr durch die Straße, das steife Prothesenbein zieht sie beim Gehen leicht mit. »Auch wenn ich angegriffen werde oder ein Bein verliere, geht das Leben weiter«, sagt Saja. »Wir müssen weiter unserer Leidenschaft folgen. Wir müssen an uns arbeiten, um aus der Situation herauszukommen, in der wir uns befinden.«

Die Lebensfreude, der Mut dieses Mädchens trotz ihres großen Verlustes hätten schon gereicht, um die Lage der Kinder in Syrien nach zehn Jahren Krieg zu beschreiben. Die Bedeutung von Bildung und Ausbildung für die Kinder und Jugendliche, die Notwendigkeit von Sicherheit für Leib und Leben, der Wunsch und die Hoffnung auf Frieden wurden in dem kurzen Videoclip mehr als deutlich.

Saja aus Aleppo gehöre zu den Kindern, die sich noch an das »wunderschöne Leben« vor dem Krieg erinnern können, sagte Unicef-Geschäftsführer Christian Schneider. »Für die meisten der fast fünf Millionen Kinder, die in den letzten Jahren in Syrien zur Welt gekommen sind«, gelte das nicht. Jedes vierte syrische Kind sei heute traumatisiert und weise Anzeichen von psychischen Belastungsstörungen auf, so Schneider. »Das zeige sich in Angst, Schlafstörungen, Depressionen bis hin zu Suizid-Gedanken bei Jugendlichen.«

Sechs Millionen Kinder sind nach Angaben von Unicef auf humanitäre Hilfe angewiesen, neun von zehn Kindern müssen arbeiten, um die Familie mit zu ernähren. Eltern verheirateten ihre Töchter früh, weil sie sich nicht anders zu helfen wüssten. Die Covid-19-Pandemie und eine schwere Wirtschaftskrise machten es vielen Familien unmöglich, genug Nahrungsmittel auf den Tisch zu stellen.

Unicef-Regionaldirektor Ted Chaiban, der per Videolink zugeschaltet ist, fordert mit Nachdruck die Rückführung ausländischer Kinder und ihrer Mütter aus dem Lager Al-Hol im Nordosten Syriens. Dort werden aktive oder ehemalige IS-Angehörige festgehalten. Unter ihnen seien mindestens 27 500 Kinder aus 60 Nationen, so Chaiban.

Bei der Pressekonferenz ging es viel um Geld. Man sei »stolz« mit Deutschland zusammenarbeiten zu können, sagte Chaiban. Die humanitäre Operation in Syrien sei »die größte in der Geschichte von Unicef«. Mit der Unterstützung der Bundesregierung und der deutschen Bevölkerung habe man für 900 000 Kinder Impfprogramme gegen die Masern umsetzen können, mehr als 400 000 Kinder erhielten psycho-soziale Unterstützung, mehr als 3,7 Millionen Kinder hätten an Unterricht teilnehmen können. 5,4 Millionen Menschen hätten Zugang zu sauberem Wasser.

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Um die Programme fortsetzen zu können, fordert die UNO für das laufende Jahr 2021 9,8 Milliarden Euro, 1,4 Milliarden davon benötigt allein Unicef. Nur vier Milliarden Euro davon seien gedeckt, zählte Entwicklungshilfeminister Gerd Müller auf. Deutschland habe in den letzten Jahren 2,2 Milliarden Euro zu den Menschen in den »Syrien-Krisenbogen« gebracht. 50 Cents koste das Überleben in Syrien am Tag. Mit Spenden an das Welternährungsprogramm (WFP) habe Deutschland das Überleben von 4,8 Millionen Menschen gesichert.

Eine Gelegenheit mehr zu spenden bietet sich Ende März, wenn die EU zusammen mit der Uno zu ihrer fünften Geberkonferenz »Für die Zukunft Syriens und der Region« nach Brüssel einlädt.

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