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Der Untergang eines hippen Kerlchens
»Kurzes Buch über Tobias«: Jakob Nolte hält die Lesenden auf Trab, zwischen Browser und Bibel
Es dauert zehn Seiten, bis man eine Ahnung davon bekommt, wovon »Kurzes Buch über Tobias« des Schriftstellers Jakob Nolte handeln könnte: Frau Shah ist verschwunden, der Protagonist Tobias Becker hatte womöglich Anteil daran - oder auch nicht. Die Vernehmung bei der Polizei bringt keine neuen Erkenntnisse. Außer vielleicht, dass ebenjene Verschwundene bei ihrem letzten Treffen Tobias noch einen Hasen geschenkt hat. Klingt nach einer Kriminalgeschichte mit Potenzial.
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Jakob Nolte: Kurzes Buch über Tobias.
Suhrkamp, 231 S., geb., 22 €. •
Zu große Erwartungen sollte man an dieser Stelle jedoch nicht hegen: Dieser Erzählstrang wird im weiteren Verlauf nur eine nebensächliche Rolle spielen respektive als eine von vielen Ideen und Fingerübungen wiederkehren. Insgesamt zieht sich diese Strategie durch den gesamten dritten Roman Jakob Noltes: Ein ehrliches Interesse an einer Geschichte im konventionellen Sinne geht dem 231-Seiten-Werk gänzlich ab. Was die Frage aufwirft, ob »Kurzes Buch über Tobias« nichts anderes als eine sprachlich fein austarierte Koketterie ist.
Nolte ist seit einem knappen Jahrzehnt fester Bestandteil der deutschsprachigen Literaturszene. Erste Bekanntheit erlangte er als Mitglied des Autoren-Duos »Nolte Decar« - Michel Decar lernte er bei einer Schachweltmeisterschaft kennen. Ihre Theaterstücke mit illustren Namen wie »Helmut Kohl läuft durch Bonn« oder »Der Volkshai« passten perfekt in das Profil trendbewusster Bühnen: postmodern, referenzreich und aus der Feder junger Dramatiker.
Nach dem gemeinsamen Studium des Szenischen Schreibens an der Universität der Künste in Berlin versandete das Projekt. Fortan schrieb Nolte alleine Theaterstücke (»Gespräch wegen der Kürbisse«), war im Wettbewerb in Klagenfurt und wurde Romancier. Das erste Ergebnis hieß »Alff« und erschien wie der Nachfolge-Roman »Schreckliche Gewalten« bei Matthes & Seitz. Während er bei »Alff« in Krimi-Gefilden fischte, öffnete er in seinem Zweitling mit Werwölfen und Werspinnen dem Horror Tür und Tor. Die ebenso verstörende wie lakonische Geschichte über zwei Geschwister glänzte durch eine bisweilen sterile und desinfizierte Sprache inmitten, nun ja, schrecklicher Gestalten. Es folgte ein Longlist-Platz für den Buchpreis 2017.
Diese Werke kann man der Richtung New Weird in der Phantastik oder dem Slipstream zwischen Science-Fiction und Postmoderne zuordnen. Noltes »Kurzes Buch über Tobias« hingegen hat weniger mit Horror oder Krimi zu tun; für sein Suhrkamp-Debüt orientiert er sich lieber an den großen Namen und Geschichten. Kein Referenzrahmen vermag das Werk zu bändigen: Das inhaltliche Spannungsfeld entwickelt Nolte zwischen christlicher Allegorie und der postmodernen Schreibe eines Thomas Pynchon im Grenzbereich von Mystik und Magie.
In seinem dritten Roman legt Nolte immer wieder neue Spuren, viele von ihnen führen ins Nirgendwo, als wären sie sich selbst genug. Es gibt hier eine sprichwörtliche Wandlung vom Saulus zum Paulus, Schreibtheorien, die Getränkekarte Berliner Szenelokale, fluide Liebeleien und Identitätsentwürfe und, und, und - alles hat seine Berechtigung.
Nolte teilt hier so richtig aus, da reicht es auch mal, bloß die offenen Tabs des Browsers aufzulisten. So generiert man eben auch Inhalt. Die Lesenden sollen stets auf Trab gehalten werden. Manchmal lustvoll, teilweise aber auch nur so lesenswert wie der Wikipedia-Artikel über postmoderne Literatur.
Macht man sich jedoch die Mühe, das Gerüst dieser Geschichte nachzuverfolgen - ja, sie wird natürlich unchronologisch aufgetischt -, dreht sich alles um den Untergang eines hippen Kerlchens, das es von der Schreibschule zu ersten Erfolgen im Literaturzirkus bringt, als Nächstes öffentlichkeitswirksam scheitert, sodann zum Glauben findet, dort auch scheitert, stirbt, aufersteht und für die Leserschaft in eine unklare Zukunft verschwindet. Der Verlag nennt es »eine moderne Heiligengeschichte«.
Da passt es gut ins Bild, dass die Welt des Protagonisten und des Autors wohl nicht ganz zufällig Schnittmengen aufweisen. Das beginnt beim Heimatort (Barsinghausen am Deister in Niedersachsen) und endet im Ringen mit einem Engel. Denn im Gegensatz zur hier geäußerten Behauptung rang in der Bibel ja gar nicht Tobias mit Esau, sondern Jakob. Das ist alles gewollt, ein buntes Spiel mit uns und unseren Erwartungen, und soll schlussendlich verunsichern. Die Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen (althergebrachten) Geschichten und alternativen Fakten verschwimmen nach und nach. In einem Interview mit dem Popmagazin »Spex« sagte Nolte einmal, er möchte, dass man nach der Lektüre dümmer sei als vorher. Heute findet er diese Aussage »etwas keck«.
Tatsächlich ist dieses Spiel aber gar nicht mal uninteressant, teilweise sogar fesselnd. Noltes Bemühtheit, sein Buch bis an die Grenze der Zumutung zu verstümmeln, gar mit der klassischen Bibelnotation (Nummerierung der Verse) zu versehen und immer wieder mit Stilblüten seines Protagonisten auszustatten, ist ein wackerer Kampf und könnte sogar ein Kommentar auf heutige Lesegewohnheiten und Aufmerksamkeitsökonomien sein. Denn all diese Tricks und Ungereimtheiten machen einem das Leben schwer - und dem Text zu folgen ebenso.
Dementsprechend wird einem erst beim zweiten Durchlauf klar, was denn eigentlich aus Frau Shah geworden ist und was dieser Hase zu bedeuten hat. Es ist fast so, als würde das Buch seinem Protagonisten folgen: Es muss erst einmal kümmerlich sterben, um wiederauferstehen zu können. Once more with a feeling …, billigend in Kauf nehmend, dass nur die wenigsten sich diese Mühe machen werden.
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