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Wer sitzen bleibt, gewinnt
Auf dramatische Weise holt Maximilian Schachmann den Sieg bei Paris-Nizza
Maximilian Schachmann wusste selbst nicht, wie ihm geschehen war. »Ich bin zugleich froh und auch extrem überrascht, dass ich hier jetzt wieder im Gelben Trikot stehe«, sagte der Berliner Radprofi in Nizza. Vor der letzten Etappe am Sonntag der Radrundfahrt Paris-Nizza war er wie alle anderen sicher noch davon ausgegangen, dass er die 52 Sekunden Rückstand auf Primoz Roglic kaum mehr aufholen konnte. Der Slowene hatte schließlich mit drei Etappensiegen und einem dritten Platz im Zeitfahren der Rundfahrt seinen Stempel aufgedrückt. Schachmann schien chancenlos gegenüber der Dominanz des Vuelta-Siegers und Zweiten der Tour de France.
Aber so ganz hatte der Berliner den Glauben an einen Erfolg offenbar doch noch nicht verloren. Er war die ganze Rundfahrt über der Beste vom Rest hinter Roglic und auch der einzige, der den Slowenen wenigstens hin und wieder mal herausgefordert hatte. Was dann aber auf der von ursprünglich 110 auf 92 Kilometer verkürzten Etappe geschah, hätte sich kein Historienschreiber ausdenken können.
Zunächst schien die Streckenverkürzung Schachmanns Aussichten weiter zu verringern. Sie war auf Initiative von Nizzas Bürgermeister Christian Estrosi veranlasst worden. Der dem Radsport zugeneigte Politiker - er holte immerhin den Start der Tour de France 2020 in seine Stadt - wollte an diesem Märzwochenende seinen Mitbürger*innen nicht den Zugang zum Meeresboulevard verbieten. Das Rennen hätte dort sonst für große Absperrungen gesorgt.
Auf der Ausweichstrecke stürzte Roglic dann zweimal. »Beim ersten Mal habe ich mir die Schulter ausgekugelt«, erzählte er später. Er stieg trotzdem wieder aufs Rad und schaffte den Anschluss ans Hauptfeld, weil dieses auf ihn, den Gepflogenheiten der Szene folgend, gewartet hatte. Den zweiten Sturz bekamen dann weder die Fernsehkameras noch die Rennkommissare mit. Wer alles im Feld davon Kenntnis hatte, ist ungewiss. »Vorn war eine starke Fluchtgruppe, das Rennen in seiner entscheidenden Phase. Es ging um den Tagessieg«, erklärte Schachmann später, warum man in dieser Situation nicht ein zweites Mal für den Gesamtführenden die Fahrt drosseln wollte. Roglic raffte sich zwar auch dieses Mal auf und kam nach Aussagen seines Sportlichen Leiters Grischa Niermann bis auf 20 Meter an das Peloton heran. »Ich holte alles aus meinem Körper heraus, aber es reichte nicht. Es war kein guter Tag für uns. Aber das Leben geht weiter«, meinte der Slowene halb enttäuscht, halb philosophisch. Im Ziel fuhr er dann zu Schachmann und gratulierte ihm mit dem in der Pandemie Mode geworden Faustgruß.
Der Sieger kämpfte da noch mit seinen widerstreitenden Gefühlen. »Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll. Man gewinnt nicht gerne auf eine solche Weise. Andererseits sind wir hierhergekommen, um meinen Titel zu verteidigen«, meinte er.
Schachmann, aufgewachsen in den Ostberliner Bezirken Lichtenberg und Hellersdorf, kristallisierte sich in den beiden Editionen von Paris-Nizza 2020 und 2021 als ein Fahrer heraus, der sich von Widrigkeiten nicht aufhalten lässt, selbst wenn alles aussichtslos scheint. Im vergangenen Jahr hatte die frisch aufbrandende Infektionswelle viele Profis verunsichert. Zahlreiche Rennställe verzichteten lieber auf einen Start bei Paris-Nizza. »Ich habe mich damals vor allem auf das Rennen konzentriert, und nach ersten Momenten der Ungewissheit alles andere ausgeblendet«, erzählte der deutsche Profi dem »nd« später.
In diesem Jahr ließ er sich auch vom großen Rückstand auf Roglic nicht entmutigen - und war zur Stelle, als diesen auf einer Abfahrt das Sturzpech ereilte. Schachmanns Teamkollegen machten danach so viel Druck, dass die Helfer von Roglic bei der Aufholjagd machtlos blieben. Der Slowene verlor somit wie schon bei der Tour de France 2020 kurz vor Schluss einen sicher geglaubten Sieg. Damals hatte ihn sein Landsmann Tadej Pogacar im letzten Zeitfahren noch überflügelt.
Auch Schachmanns Sieg war nicht unverdient: Im Schatten von Roglic hatte er die weitere, namhafte Konkurrenz auf Distanz gehalten. Und am Ende konnte er sich bei allen Gewissensbissen mit der alten Radsportweisheit trösten: Rennen kann nur gewinnen, wer auf dem Rad bleibt.
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