Tipps für Männer

Nach dem Mord an Sarah Everard in London kocht die Debatte über Gewalt an Frauen hoch

  • Lea Sauer
  • Lesedauer: 5 Min.

#textmewhenyougethome – schreib mir, wenn du Zuhause bist – lautet der Hashtag, der seit dem Mord an der 33-jährigen Britin Sarah Everard in den sozialen Medien trendet. Am 3. März war sie zu Besuch bei einer Freundin gewesen und hatte sich gegen 21 Uhr zu Fuß auf den Nachhauseweg gemacht. Zuletzt wurde sie wenige Straßen entfernt vom Clapham Common Park im Süden Londons gesehen, wenige Tage später wurde ihre Leiche in der Nähe von Kent aufgefunden. Ein Polizeibeamter wurde wegen des dringenden Verdachts auf Entführung und Mord festgenommen.

Seitdem machen Menschen auf der ganzen Welt unter dem Hashtag #textmewhenyougethome auf die Gewalterfahrungen und Diskriminierungen aufmerksam, die Frauen im öffentlichen Raum erleben. Es gab auch öffentlichen Proteste und Mahnwachen. Umso tragischer, dass Polizisten bei einer dieser Veranstaltungen, am vergangenen Samstag im Londoner Clapham Common Park, gewaltsam gegen demonstrierende Frauen vorging, die sich in Gedenken an Sarah Everard friedlich dort versammelt hatten. Angeblich hätten sie die Corona-Abstandsregelungen nicht eingehalten. Viele allerdings kritisieren ein unverhältnismäßiges Vorgehen der Polizei, das Foto einer Frau in Handschellen, die auf dieser Gedenkveranstaltung brutal von zwei Polizisten zu Boden gedrückt wird, ging viral.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Frauen können sich auf Behörden nicht verlassen

Das Bild hat symbolischen Charakter. Für viele mutet es ironisch an, dass Frauen, die gegen Gewalt demonstrieren, gerade von der Instanz die sie schützen sollte, brutal zu Boden gedrückt werden. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass der vermeintliche Täter selbst ein Polizist war. Das Bild macht schmerzlich deutlich, wie wenig Frauen auf den Schutz durch öffentliche Behörden bauen können. Es reiht sich ein, in eine öffentliche Diskussion über Polizeigewalt, die spätestens seit den Black Lives Matter-Protesten im vergangenen Jahr mediale Aufmerksamkeit erfuhr.

Aber auch aus anderen Gründen geht der Fall Sarah Everard Frauen auf der ganzen Welt so nah: Weil es eben nicht nur in England, sondern überall passiert, in den USA ebenso wie in Kolumbien, in Indien ebenso wie in Großbritannien oder Deutschland. Der Hashtag #textmewhenyougethome ist für die allermeisten Frauen eben nicht nur ein leeres Schlagwort. Denn die traurige Realität ist: Jede hat diesen Satz schon einmal einer Freundin vor dem Nachhauseweg zum Abschied gesagt. Jede hat ihn auch schon einmal mit auf den Weg gegeben bekommen. Dieser Satz ist verknüpft mit Erinnerungen an eigene Erlebnisse, die hätten ähnlich enden können, wie der Fall Sarah Everard. Denn traurige Realität ist auch: Es geht hier um mehr als Sarah Everard. Es geht auch um Myriam Z., Aylin I., Homa Z. oder um Kathrin R., es geht um meine Freundinnen und mich, weil die Gefahr für uns immer präsent ist, sobald wir das Haus verlassen.

Frauenmorde werden falsch geframt

Statistisch gesehen, versucht in Deutschland jeden Tag ein Mann eine Frau umzubringen, jeden dritten Tag wird deutschlandweit eine Frau von einem Mann ermordet. Allein in Leipzig registrierte die selbstorganisierte Gruppe #keinemehrleipzig seit 2011 zwölf Morde an Frauen, die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich noch höher. Das ist Femizid, also Mord an Frauen, aufgrund ihres weiblichen Geschlechts. Es ist wichtig diese Morde als Femizide zu benennen. Der Ausdruck Femizid taucht allerdings bis heute weder in der polizeilichen Statistik auf, noch werden Morde an Frauen beim Bundesfrauenministerium als Femizide benannt. Auch in den Medien werden Morde an Frauen häufig anders geframed.Beispielweise wird häufig ausführlich beschrieben, was die Frau anhatte, als sie nachts nach Hause lief – so als wäre ein Minirock eine Einladung zum Mord. Oder es ist von ‚Beziehungsdramen‘ die Rede, wenn ein (Ex-)Partner seine Frau umbringt – so als wäre dem Mann der Mord einfach aus einer Emotion heraus passiert.

Die Polizeibehörde in London sprach direkt nach der Tat eine Warnung aus: Frauen sollen erst einmal Zuhause bleiben. Das ist nachvollziehbar, wurde allerdings von vielen Frauen als Täter-Opfer-Umkehr kritisiert: Warum müssen sie ihr Verhalten ändern und nicht die Täter? Und damit sind wir bei der eigentlichen Frage: Warum wird so wenig für den Schutz von Frauen im öffentlichen Raum getan?

Ein Problem der ganzen Gesellschaft

In den Sozialen Medien berichteten Frauen unter dem Hashtag #textmewhenyougethome hauptsächlich von ihren eigenen Erfahrungen. Diese Sichtbarmachung von öffentlichen Diskriminierungen, Angriffen und Straftaten ist wichtig. Doch der Mord von Everard muss weiterreichende Folgen haben. Wenn wir das Problem weiterhin nur als Problem von Frauen darstellen, wälzen wir die Verantwortung wieder einmal auf die potenziellen Opfer dieser gewaltvollen Struktur ab. Dabei handelt es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es kann nicht sein, dass selbstorganisierte Gruppen mehr Zeit und Energie in die Informationen und Aufklärung über Frauenmorde stecken, als es die öffentlichen Behörden machen.

Es muss endlich ein Umdenken stattfinden, bei dem Männer sich ihren Freundinnen, Kolleginnen, Schwestern und Töchtern zur Seite stellen und Verantwortung übernehmen. Statt Frauen Tipps zu geben, wie sie sich auf dem Nachhauseweg schützen können, trug beispielsweise die Kampagne des australischen Ablegers der Hilfsorganisation Plan »Walk Like A Woman« bereits 2019 einige praktische Tipps zusammen, wie Männer sich in der Öffentlichkeit verhalten sollten: 1. Abstand halten. 2. Frauen nicht auf der Straße verfolgen. 3. Sie nicht anstarren. 4. Keine ungefragten Kommentare über ihr Aussehen machen. 5. Sich im männlichen Freundeskreis gegen sexistische Kommentare aussprechen – auch wenn Frauen nicht anwesend sind. 6. Hilfe anbieten, wenn man Belästigungen auf der Straße bemerkt. 7. Mit Frauen über ihre Bedürfnisse sprechen, sich solidarisch zeigen, das Thema ernst nehmen.

Wie wäre es, wenn Männer und Behörden Frauen endlich ernst nehmen würden, sie nach ihren Bedürfnissen im öffentlichen Raum fragten? Was wäre, wenn endlich von offizieller Seite anerkannt würde, dass Frauenmord eine reale Bedrohung in Deutschland ist? Es wäre vielleicht nur ein kleiner Anfang, überfällig ist er allemal.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.