Endgültige Entscheidung treffen nationale Gerichte
Europäischer gerichtshof zum Verbot religiöser Zeichen im Betrieb
Der Generalanwalt des EuGH sprach sich am 25. Februar 2021 zugunsten der deutschen Religionsfreiheit aus.
Mit dem Bundesarbeitsgericht (Beschluss vom 30. Januar 2019, Az. 10 AZR 299/18 A) und dem Arbeitsgericht Hamburg (Beschluss vom 21. November 2018, Az. 8 Ca 123/18) haben gleich zwei deutsche Arbeitsgerichte den Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung angerufen, ob das in der Grundrechtecharta verbriefte Recht auf unternehmerische Betätigungsfreiheit die Religionsfreiheit des einzelnen Arbeitnehmers überwiegt.
Konkret geht es um die Frage, ob und wann Unternehmen Mitarbeiter*innen das Tragen von Kopftüchern und anderen sichtbaren religiösen Zeichen verbieten dürfen. Es geht dabei um die schwierige Abwägungsfrage zwischen zwei geschützten Rechtspositionen: Religionsfreiheit des Einzelnen auf der einen Seite versus unternehmerischer Betätigungsfreiheit auf der anderen Seite.
Bundesverfassungsgericht: Verbot nur bei konkreten Störungen
Das Grundgesetz schützt in Art. 4 die Religionsfreiheit und deren Ausübung. Ihr kommt eine besonders große Bedeutung zu. So hat das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 27. Januar 2015, Az. 1 BvR 471/10 und Az. 1 BvR 1181/10) ein generelles Verbot von Kopftüchern für Lehrerinnen als verfassungswidrig angesehen. Die Verfassungsrichter verlangen vielmehr eine konkrete Störung des Schulfriedens, um von daher ein Kopftuchverbot zu rechtfertigen.
Ähnlich urteilen deutsche Arbeitsgerichte: Ein betriebliches Kopftuchverbot ist danach nur gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber konkrete Störungen darlegen kann. Allein der Wunsch des Arbeitgebers nach betrieblicher Neutralität ist rechtlich nicht ausreichend. So habe das BAG mit Urteil vom 10. Oktober 2002 (Az. 2 AZR 472/01) zu Gunsten einer kopftuchtragenden Verkäuferin entschieden.
Europäisches Recht: Größeres Gewicht der Unternehmerinteressen
Die Sichtweise des EuGH war in der Vergangenheit hingegen unternehmensfreundlicher: So stellte dieser in einer Entscheidung (EuGH-Urteil vom 14. März 2017, Az. C-157/15) fest, dass die Anforderung eines neutralen Auftretens ohne sichtbare religiöse Zeichen bei einer Mitarbeiterin im Empfangsbereich durchaus gerechtfertigt sein kann und keine religiöse Diskriminierung darstellt.
Hiervon nahm nunmehr der Generalanwalt in seinen aktuellen Schlussanträgen wieder Abstand (Az. C-804/18 und Az. C-341/19). Er führt aus, dass die Besonderheiten des nationalen Verfassungsrechts zu beachten seien. Dies erfordere die Vielfalt der in den Mitgliedstaaten jeweils unterschiedlich anerkannten Religionsfreiheit.
Ein Arbeitgeber dürfe zwar große sichtbare religiöse Zeichen aus Gründen der Neutralität verbieten. Kleinere und unauffälligere Zeichen seien hingegen erlaubt. Wenn die nationale Verfassung der Religionsfreiheit ein großes Gewicht einräume und ein Verbot nur bei konkreten Beeinträchtigungen vorsehe, sei dies europarechtlich nicht zu beanstanden. Die Frage, was unauffällig und klein ist, bleibt den Mitgliedstaaten überlassen. Ein Kopftuch ist kein kleines religiöses Zeichen. Ob dies erlaubt bleibt, müssten danach weiterhin nationale Gerichte entscheiden.
Schlussantrag noch keine verbindliche Entscheidung
Der Schlussantrag ist noch keine verbindliche Entscheidung. Der Generalanwalt am EuGH hat aber - übertragen in das deutsche Recht - eine Rolle, die mit einem Richter als Berichterstatter am ehesten vergleichbar ist, der eine Rechtssache vorbereitet und eine Entscheidungsempfehlung abgibt. Daher folgt der EuGH in seinen späteren Entscheidungen auch fast regelmäßig den Schlussanträgen seiner Generalanwälte. Mit dem abschließenden Urteil ist in wenigen Monaten zu rechnen.
Folgen für deutsches Arbeits- und Verfassungsrecht
Wenn das Urteil so kommt, bedeutet dies für Arbeitnehmer eine Stärkung der Religionsfreiheit. Ein Verbot sichtbarer religiöser Zeichen zur Wahrung von betrieblicher Neutralität wird damit weiterhin eine unzulässige Diskriminierung darstellen. Die Entscheidung liegt damit auf der Linie des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Wäre die Entscheidung anders ausgefallen, hätte dies zudem die grundlegende Frage des Verhältnisses zwischen deutschem Verfassungsrecht und europarechtlichen Vorgaben aufgeworfen.
Bislang erkennt das Verfassungsgericht den Vorrang europäischen Rechts vor deutschem Recht an. Dies gilt aber nur solange, wie das europäische Recht einen gleichwertigen Grundrechtsschutz gewährleistet. Bei der Religionsfreiheit drohte dieser Schutz künftig nicht mehr gegeben zu sein. Diese Gefahr ist nun vorerst gebannt, da Unionsrecht und Verfassungsrecht hier übereinstimmen. dpa/nd
Der Autor ist Professor für Arbeitsrecht an der Hochschule Fresenius in Hamburg sowie Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei FHM Rechtsanwälte.
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