Werbung

Erst die Moral, dann der Lohn

Das «historische moralische Element», wie es Karl Marx nannte, wandelt sich mit den Epochen

  • Antonella Muzzupappa
  • Lesedauer: 6 Min.

Leistung muss sich lohnen. Der Mindestlohn steigt!« Dieser Spruch lief Ende Dezember 2020 auf Twitter. Absender war die CDU, die uns damit ein weiteres Mal an etwas erinnerte, das allgemein geteilt wird: Lohn und Leistung gehören zusammen. Was flächendeckend akzeptiert und propagiert wird, führt bei näherer Betrachtung allerdings ins Teufels Küche. Um die Höhe der Löhne durch die Arbeitsleistung zu erklären, müssten wir individuelle Leistungen messen und miteinander vergleichen können. Nehmen wir einen Chirurgen und eine Kassiererin. Der eine verdient in der Bundesrepublik durchschnittlich 8.000 Euro im Monat. Die andere nur 1.400 Euro. Wenn wir den Lohn durch die Leistung erklären wollen, müssten wir sagen, dass eine Stunde »Operieren« 5,8 Stunden »Kassieren« entspricht. Dafür fehlt aber eine Grundlage, auf der wir zwei so unterschiedlichen Aktivitäten vergleichen könnten, um sie dann in ein quantitatives Verhältnis zueinander zu setzen, das die Lohnunterschiede erklärt.

Will man von der Leistung auf den Lohn schließen, kann man auch weitere Phänomene nicht erklären. Warum verdienen Frauen vielfach weniger als Männer, selbst wenn sie die gleiche Leistung erbringen? Warum werden für die gleiche Arbeit einige Menschen nach Tarif bezahlt und andere per Werkvertrag und daher schlechter? Warum werden in Asien niedrigere Löhne für die gleiche Arbeit bezahlt als in Europa? Würde tatsächlich die Leistung bezahlt, dürfte all das nicht vorkommen.

Aus des Teufels Küche heraus kommt man, wenn man sich davon trennt, Löhne durch Leistung zu erklären. Schauen wir uns an, wie Karl Marx an der Sache herangeht. Zunächst einmal stellt er klar: Arbeit (»Leistung«) ist keine Ware, nichts was ge- und verkauft wird und einen Preis haben könnte. Was der Chirurg verkauft, ist nicht das »Operieren«, sondern seine Fähigkeit, zu operieren. Diese Fähigkeit trägt er praktisch in seiner Person und verkauft sie für einen bestimmten Zeitraum. Bezahlt wird also nicht die Arbeit, sondern das, was Marx Arbeitskraft nennt. Was gemeinhin »Arbeitsmarkt« genannt wird, ist in Wahrheit ein Arbeitskräftemarkt.

Worauf basiert nun die Bezahlung der Arbeitskräfte, wenn nicht auf ihrer Leistung? Wie kommt man auf die 8.000 Euro monatlich, die der Chirurg verdient? Wie bei jeder anderen Ware auch, sind die Produktionskosten entscheidend, das ist die Zeit, die notwendig ist, um die Ware zu produzieren. Bei der speziellen Ware Arbeitskraft kommen zu den Produktionskosten auch die Reproduktionskosten hinzu. Alles, was notwendig ist, um den Chirurgen am Leben zu halten, ihn als Chirurg auszubilden und ihm zu ermöglichen, seine Kinder großzuziehen, bildet die Grundlage für seinen Preis.
Und schon das liefert uns eine erste vorläufige Erklärung dafür, warum die Kassiererin weniger Lohn als der Chirurg bekommt: Aufgrund einer kürzeren und billigeren Ausbildung sind ihre Produktionskosten niedriger.

Bestimmend für die Produktions- und Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft ist aber das, was Marx das »historische moralische Element« nennt: In welcher Epoche lebt der Chirurg? Schreiben wir das Jahr 1870 oder 2021? Wo lebt er? Welche Berufe gelten gerade als angesehen und welche nicht? Welche Kultur herrscht? Welche Moral? Was gilt also in dieser Zeit und an diesem Ort als Standard beziehungsweise als zumutbar und wird deswegen akzeptiert? Nehmen wir zum Beispiel den Kühlschrank oder die Waschmaschine: Es gab Zeiten, in denen es alles andere als selbstverständlich war, dass solche Elektrogeräte in jedem Haushalt zur Verfügung stehen. Sie gehörten nicht zum gesellschaftlichen Durchschnitt. Schauen wir heute noch auf Regionen außerhalb der westlichen Welt, so stellen wir fest, dass Haushalte mit Kühlschränken und Waschmaschinen eher eine Ausnahme darstellen können, ohne dass einem das merkwürdig vorkäme.

Welche und wie viele Bedürfnisse als notwendig erachtet werden, die Art und Weise, wie diese zu befriedigen sind, verkörpern akzeptierte Werte und Kultur in weitesten Sinne: Das alles spielt bei der Höhe der Löhne der verschiedenen Berufe eine große Rolle. Das historische moralische Element verändert sich in der Zeit und in der gleichen Zeit je nach Ort. An einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit ist es jedoch gegeben und bildet die Grundlage für den Lohn.

Das historische moralische Element erklärt, warum der Chirurg in der Bundesrepublik mehr verdient als der in Osteuropa, der wiederum immer noch mehr verdient als viele Kollegen und Kolleginnen in anderen Regionen der Welt. Und dass Frauen oft immer noch weniger als Männer verdienen und öfter in Teilzeit arbeiten, hat auch seine Grundlagen in einer immer noch herrschenden patriarchalen Kultur, in der ihnen die Rolle der Hüterinnen von Haus und Kindern zukommt. Natürlich unentgeltlich.
Teil des historischen moralischen Elements ist schließlich die politische Dimension. Sind Beschäftigte gut organisiert und dadurch in der Lage, die Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitskräftemarkt zu verschieben, so können sie ihre Interessen besser durchsetzen und höhere Löhne erkämpfen. Die Produktions- und Reproduktionskosten stellen das Minimum, unter das die Löhne nicht fallen sollten, dar. Alles darüber hinaus ist Verhandlungssache. Wie günstig oder ungünstig die Bedingungen für die Verhandlung sind, ist jedes Mal von vielen Faktoren abhängig. Nicht zuletzt von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitskräftemarkt, sowie der nationalen und internationalen Konkurrenz unter Beschäftigten.

Warum glauben aber so viele Leute, der Lohn sei die Bezahlung der Leistung? Einerseits entspringt dieser Glaube aus den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst. Anderseits ist er für diese Gesellschaft notwendig. Dass wir am Ende des Monats, nachdem wir gearbeitet haben, eine Summe Geld auf unser Konto bekommen, erweckt den Eindruck, dies sei die Bezahlung für unsere Arbeit. Das, was beim Preis einer Sache so klar erscheint, verwischt beim Lohn. Kaufen wir einen Staubsauger, würden wir nie auf die Idee kommen, dass wir gerade das Saugen gekauft und bezahlt haben. Das hindert uns aber nicht zu glauben, wir würden unsere Leistung verkaufen. Auf der Grundlage dieses Glaubens kann dann unsere Gesellschaft Lohnunterschiede, Arbeitslosigkeit, Armut usw. erklären und legitimieren. Verdient man wenig, so hat man sich dies selbst zuzuschreiben. Das ist der Kern der Leistungsmoral, die in unserer Gesellschaft herrscht.

Und diese Moral darf nicht in Frage gestellt werden, was man auch an der Diskussion zum Bedingungslosen Grundeinkommen sieht. Abgesehen von den vielen einzelnen Kritiken, die von vielen Seiten daran geübt werden – eines wäre wirklich schlimm: Trennte man in einer kapitalistischen Gesellschaft die Bezahlung von der Arbeit, indem man einigen oder sogar allen eine vernünftige finanzielle Absicherung zur Verfügung stellt, so verschwände der stumme Zwang zur Lohnarbeit. Zum Verschwinden der kapitalistischen Gesellschaft selbst wäre es dann nicht mehr so weit.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.