Aufbruch im Land des Donnerdrachens

Das einst abgeschlossene Königreich Bhutan hat sich geöffnet und laviert zwischen strengen Traditionen und einer zügellosen Moderne

  • Anja Steinbuch und Michael Marek, Thimphu
  • Lesedauer: 8 Min.

»Es gibt bei uns einen Zwang, glücklich zu sein!« Namgay Zam blickt selbstbewusst und zugleich besorgt aus dem Fenster. Ihr Heimatland Bhutan gehört laut den Vereinten Nationen zu den »least developed countries«, also zu den Ländern in der Welt, die am wenigsten entwickelt sind. Dafür gilt das Königreich als Land des Glücks, weil hier das »Bruttonationalglück« und nicht nur das Bruttosozialprodukt gemessen wird. Denn das Recht auf Glück ist in Bhutan per Gesetz Ziel allen staatlichen Handelns und seit den 1970er Jahren in der Verfassung verankert. Wir treffen die 36-jährige Vorsitzende des Journalistenverbandes in der Hauptstadt Thimphu.

Namgay Zam ist in Bhutan ein Star, und sie ist eine Symbolfigur für den Aufbruch einer ganzen Nation in Richtung Westen und dessen Lebensstil. Ein Grundstein dafür wurde 2008 gelegt, als aus einer absolutistischen Monarchie eine konstitutionelle wurde. Noch vor zwei Jahren moderierte sie im öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramm die Abendnachrichten. Jetzt sitzt uns Namgay Zam mit Seidenbluse und Kira gegenüber, dem traditionellen bodenlangen Wickelrock. Als Anchorwoman verkörperte und verkündete sie die Öffnung des Landes für westliche Ideen. Heute kümmert sie sich um die Medienkompetenz ihrer Landsleute. Gerade hat sie ein UN-Projekt zu dem Thema in einem entfernten Hochtal abgeschlossen: »Das war zwei Tagesmärsche von hier entfernt«, erzählt sie. »Die Menschen dort haben erst seit 2016 einen Stromanschluss, und Internet gibt es sogar erst seit zwei Jahren.«

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Fernsehen erst seit 20 Jahren

Als das letzte Shangri-La, ein Himmel auf Erden, so wird Bhutan gern im Westen beschrieben. Abgeschirmt von den höchsten Bergen des Himalaya liegt dieses kleine Land so groß wie die Schweiz. Eingeklemmt zwischen China und Indien leben seine etwa 770 000 Einwohner nach buddhistischer Religion: Bhutan gilt als ein Lehrbeispiel für die behutsame Öffnung eines Landes gegenüber westlichen Lebensweisen und hat sich lange gegen die Einflüsse von Globalisierung und sozialen Netzwerken gesperrt.

Touristen haben seit den 1970er Jahren den Ministaat als Hort der Ruhe und der nachhaltigen Lebensweise für sich entdeckt. Bhutan ist stolz auf seine Unabhängigkeit - vor allem aber auf seine Kultur: auf Maskentanz, traditionelle Gesänge und Bogenschießen, vor allem aber seine imposanten Klosterburgen.

Doch die Moderne hat auch hier Einzug gehalten. Als eines der letzten Länder der Welt hat Bhutan vor gut 20 Jahren Fernsehen und Internet eingeführt. 1999 war es ein Paukenschlag, als die erste Fernsehsendung über einen Bildschirm flimmerte. Erst 13 Jahre später folgte der zweite TV-Kanal. Fernsehen, Smartphone, Internet und soziale Netzwerke - das digitale Zeitalter hat mittlerweile nicht nur in der Hauptstadt Thimphu Einzug gehalten, sondern bis in den entferntesten Tälern des Himalaya.

Als Gefahr betrachtet Namgay Zam den sich ausbreitenden Sensationsjournalismus. Denn die meisten Einwohner könnten Schlagzeilen und Bilder nicht richtig einschätzen. Unerfahrene Reporter könnten hier großen Schaden anrichten. Sie erzählt von einem Video auf einem sozialen Netzwerk, das für Panik gesorgt hatte: »Zu sehen war ein Mönch, der geschlagen wurde. Er sprach einen Dialekt, der auch in Bhutan gesprochen wird. Alle waren besorgt: Wie kann das in einem unserer Klöster passieren?« Beim Faktencheck kam heraus, dass das Video in Sikkim aufgenommen worden war - im Norden Indiens - und nicht in Bhutan. Namgay Zam hat das dann den erstaunten Dorfbewohnern erklärt. Zuschauer und Internetnutzer müssten beim Umgang mit Nachrichten noch sensibilisiert werden, sagt sie.

Bemerkenswert an der Journalistin ist ihr Selbstbewusstsein. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, und ihre Artikel, die sie in Zeitungen oder im Netz veröffentlicht, zeigen Wirkung: So hat sie den Erfahrungsbericht einer jungen Frau veröffentlicht, deren Familie wegen Zahlungsausständen von einem einflussreichen Geschäftsmann bedrängt wurde. In der Folge begann in Bhutan eine der ersten Debatten über den Zustand der jungen Demokratie.

Doch Kontroversen um die konstitutionelle Monarchie, um Korruption und die Gleichheit der Bürger vor Gericht haben sich ins Internet verlagert, sagt Namgay Zam. Es seien besonders frustrierte Jugendliche, die mit den streng kodifizierten und hierarchisch geregelten Umgangsformen der buddhistischen Gesellschaft brechen. Dagegen sei auch Selbstzensur unter Journalisten in Bhutan weit verbreitet, auch und gerade wenn es um politische und religiöse Themen geht. So sind geistliche Würdenträger praktisch unantastbar. Berichte über Misshandlungen hinter Klostermauern dringen kaum an die Öffentlichkeit.

Suizidrate sprunghaft gestiegen

Die gesellschaftlichen Auswirkungen der medialen Öffnung sind gravierend. Seit der Einführung von Fernsehen und Internet ist die Suizidrate laut Weltgesundheitsorganisation sprunghaft gestiegen. »Hier laufe doch alles prima, heißt es. Wie kann man da unglücklich sein?«, fragt die Journalistin. »Und was, wenn du keine perfekte Familie hast, keine perfekte Ausbildung und nicht die besten Lehrer? Unglücklich darfst du ja nicht sein.« Was also tun? Man lenke sich ab und suche Trost in Alkohol oder anderen Drogen.

In der aktuellen journalistischen Berichterstattung beunruhigt Namgay Zam vor allem eines: »Wir erhalten viele religiös motivierte Fake News. Es werden irgendwelche Nahrungsmittel, Gebete und religiöse Praktiken gegen das Virus empfohlen.« Eine kritische Mediendebatte über das Handeln der Regierung gibt es aber bislang nicht.

Dabei braucht das Land als junge Demokratie dringend gut ausgebildete Journalisten. Aber Qualität und Diversität der Berichterstattung ließen laut Namgay Zam zu wünschen übrig: »Gemessen an der Anzahl der Medienhäuser steht es schlecht um den Journalismus als vierte Gewalt.« Von 13 Medienunternehmen zu Beginn der Demokratie 2008 sind noch sieben übrig. Die Mehrzahl veröffentlicht auf Englisch - bis auf die Zeitung, die auch eine Ausgabe auf Dzongkha herausgibt. Gleichzeitig habe die Qualität abgenommen, erzählt Namgay Zam, weil viele gut ausgebildete Kollegen die Medienhäuser verlassen haben.

In der Rangliste der Pressefreiheit 2020 belegt Bhutan Platz 67 von 180 Staaten. Dennoch gehören Bhutans Medien innerhalb Asiens zu den besten, so »Reporter ohne Grenzen« in ihrem Jahresbericht. Allerdings ist die redaktionelle Unabhängigkeit des staatlichen Bhutan Broadcasting Service nicht gesetzlich garantiert.

Draußen, mitten in Thimphu, regelt ein Polizist mit weißen Handschuhen und anmutigen Armbewegungen den Verkehr auf dem zentralen städtischen Knotenpunkt. Die Fahrbahn ist staubig, am Straßenrand blühen bunte Blumen. Noch ist die Hauptstadt Bhutans mit 100 000 Einwohnern recht klein, aber sie wächst schneller als fast alle asiatischen Städte.

Was überall ins Auge fällt - egal ob auf dem Land oder in der Hauptstadt Thimphu - ist eine ähnliche Architektur: Sowohl das alte Bauernhaus, die Klosteranlage, das moderne Flughafengebäude als auch das mehrstöckige Wohnhaus sind weiß getüncht und mit Erkern, Veranden und Loggien aus Holz versehen.

»Bhutan hat eine faszinierende Holzbau-Architektur, die eben nicht von Architekten geplant wurde«, sagt Peter Schmid. Der 62-jährige Architekt empfängt uns auf einer von Bäumen geschützten Terrasse vor seinem Wohnhaus in Thimphu. Schmid ist Schweizer und Bhutaner. Der groß gewachsene Blonde mit dem melancholischen Blick muss es wissen. Seit über einem Vierteljahrhundert lebt Schmid in Bhutan. Für seine Verdienste, die alte bhutanische Architektur zu erhalten, hat er sogar die Staatsbürgerschaft des Königreiches verliehen bekommen. Eine seltene Ehre, die bisher nur zehn Ausländern zuteilwurde. Bei 770 000 Einwohnern ist Bhutan vermutlich das Land mit der geringsten Einbürgerungsquote der Welt.

Schmid schätzt die Baumeister in Bhutan: »Das sind alte Zimmermänner, geniale Leute, die reden nicht viel, die machen eine Zeichnung in den Sand. Die brauchen keine Ingenieure und hoch entwickelte Computersysteme. Die bauen einfach und haben es im Gefühl.«

Die traditionellen, meist ein- oder zweigeschossigen Wohnhäuser bestehen aus Stampflehm und Holz. Weder Nägel noch Schrauben kommen zum Einsatz. Im Erdgeschoss befinden sich die Wirtschaftsräume: Kornspeicher, Lager, Abstellraum und Stallungen. Der Wohn- und Schlafbereich - spärlich möbliert - liegt im oberen Stockwerk; ebenso der obligatorische Hausschrein und die Küche. Die Fenster sind meistens nicht verglast, sondern werden von innen mit Schiebeläden aus Holz verschlossen. »In Bhutan gibt es ein schönes System, das jeder von der Regierung Land kriegt«, erklärt Schmid. »Man bekommt Holz, um ein Haus zu bauen. Das ist ganz billig. Und man baut sein Haus mit den Nachbarn.«

Alte Baustile in Beton gegossen

Viele Jahre hat Schmid für das Internationale Rote Kreuz gearbeitet, hat Krankenhäuser in Krisengebieten gebaut: Afghanistan, Irak, Somalia, Sri Lanka, Sudan. Nach seinen Missionen ist er immer wieder nach Bhutan zurückgekehrt. Inzwischen ist er einer der gefragtesten Architekten im Land und mit einer Bhutanerin verheiratet. Er gestaltet und plant öffentliche Gebäude, Hotels, Tempel - und ist auch für die Königsfamilie tätig.

Am Ende unseres Besuchs kommt Peter Schmid auf das zu sprechen, was ihm als Architekt Sorge bereitet und im Stadtbild der Hauptstadt unübersehbar ist: »Wenn man sich Thimphu anschaut, dann wurde alles nur kopiert und in Beton nachgebaut. Und diese Häuschen zeigen eigentlich nur, huhu, ich bin ein altes Häuschen, aber es ist doch ein Betonbau. Die Leute frieren auch sehr in diesen Häusern.«

Man möchte modern sein - auch in Bhutan, erzählt Schmidt. Die Leute würden ihn als Architekten damit beauftragen, ein traditionelles Haus im westlichen Baustil zu entwerfen. Er empfehle aber keinen Betonbau, sondern einen aus Lehm. Das verfüge über eine viel bessere Wärmedämmung, sei umweltfreundlicher und energieeffizienter. Die Kunden wären dann aber enttäuscht, weil das nicht modern oder irgendwie westlich sei. Ein Missverständnis, so Schmid.

Dass mit Peter Schmid ein Europäer die Bautradition pflegt und mit Namgay Zam eine Frau mit Auslandserfahrung kritische Fragen stellt, ist kein Zufall. Eine Zivilgesellschaft wie im Westen gibt es in Bhutan kaum. Öffentlicher Protest wird als Form der Gewalt betrachtet. Journalistin Zam jedenfalls ist sich sicher: »Der König hat uns 2008 die Demokratie geschenkt, mit Leben erfüllen müssen wir sie selber!«

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