Keine Mehrheit nirgends

Wahlsieger Bojko Borissow vor schwieriger Regierungsbildung in Bulgarien

  • Roland Zschächner
  • Lesedauer: 4 Min.

Welche Parteien in Bulgarien zukünftig eine Regierungskoalition bilden, ist offen. Langwierige Verhandlungen dazu werden erwartet, sogar Neuwahlen sind nicht auszuschließen. Klar ist: Sechs Parteien werden zukünftig im bulgarischen Parlament vertreten sein. Bei der Wahl zum Narodno Sabranie am Sonntag haben die bisher regierenden »Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens« (GERB) von Premierminister Bojko Borissow rund 25 Prozent der Stimmen erhalten. Sieben Prozentpunkte weniger als vor vier Jahren. Zweitstärkste Kraft wurde überraschend »Es gibt so ein Volk« (ITN) des Fernsehmoderators Slawi Trifonow mit 18,5 Prozent, wie die Wahlbehörde am Montag meldete. Das offizielle Endergebnis wird im Laufe der Woche erwartet. Auf knapp 15 Prozent der abgegebenen Stimmen kam die oppositionelle Bulgarische Sozialistische Partei (BSP), gefolgt von »Demokratisches Bulgarien« (DB) mit 10,3 Prozent und der die Interessen der türkischen Minderheit vertretenden »Bewegung für Rechte und Freiheiten«, die neun Prozent errang. Über die Vierprozenthürde schaffte es mit knapp fünf Prozent auch die Liste »Aufstehen! Räuber raus!«.

Starke Zuwächse konnten die Parteien erringen, die sich als Vertreterinnen der im vergangenen Jahr gegen die pandemische Korruption formierten Protestbewegung präsentierten: ITN, DB und Aufstehen. Auslöser der Massendemonstrationen war Anfang Juli eine von der Generalstaatsanwaltschaft angeordnete Razzia bei dem sozialdemokratischen Präsidenten Rumen Radew, ein scharfer Kritiker Borissows. Bis in den Winter hinein gingen die Menschen landesweit täglich auf die Straße. Sie forderten den Rücktritt der herrschenden Eliten und die Trockenlegung der mafiösen Strukturen, die den Staat im Interesse weniger Oligarchen kontrollieren. Auch Borissow geriet unter Druck, nachdem Fotos publik wurden, die ihn neben Geldbündeln, Goldbarren und einer Pistole schlafend zeigen. Doch er gab sich hartnäckig und bot lediglich an, eine neue Verfassung auszuarbeiten; gleichzeitig zogen sich einige Anführer aus den Protesten zurück und schlugen den parlamentarischen Weg ein.

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Um nicht auf die Forderungen der Antikorruptionsbewegung angesprochen zu werden, ließ Borissow seine Wahlkampftour durchs Land von einem eigenen Medienteam dokumentieren. Das hielt fest, wie der ehemalige Bodyguard und Karatemeister Hände schüttelte und seine Parole »Arbeit, Arbeit, Arbeit« unter die Menschen brachte. Wer sich diese indes zu eigen machen will, hat dazu in Bulgarien wenig Möglichkeiten, zumindest, wenn dafür auch ein Lohn erwartet wird, der zum Überleben reicht. Der durchschnittliche Stundenlohn liegt bei 2,40 Euro. Das reicht kaum aus zum Überleben, wie der Verband der unabhängigen Gewerkschaften im Februar mitteilte. Demnach ist zwei Drittel der rund sieben Millionen Einwohner nicht in der Lage, die Lebenshaltungskosten zu decken. Für das Jahr 2019 errechnete die EU-Statistikbehörde Eurostat, dass der Anteil der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Personen bei 32,5 Prozent liegt. Viele Bulgaren suchen daher ihr Glück im westeuropäischen Ausland. Dort verdingen sie sich unter anderem als Tagelöhner auf bundesdeutschen Baustellen, Schlachthöfen und Spargelfeldern - oder sie versorgen alte Menschen.

Nun, in der Corona-Pandemie, fehlen diese Pflegekräfte im chronisch unterfinanzierten bulgarischen Gesundheitssektor. Die Folgen sind eine mangelnde Versorgung von Covid-19-Erkrankten, die Todesrate stieg im EU-Vergleich seit Jahresbeginn erheblich. Mitte März reagierte die Regierung. Indes wurde nicht den Krankenhäusern geholfen, sondern ein Lockdown verhängt. Dieser bei vielen Bürgern unpopuläre Schritt dürfte den Erfolg von Trifonows ITN erklären. Der Medienmann inszenierte sich - ähnlich inhaltsleer wie die italienische »Fünf-Sterne-Bewegung« - als dritte Kraft neben Borissows GERB und der sozialdemokratischen BSP. Sein Ziel: das politische System zu reformieren.

Damit knüpft Trifonow an ein allgemeines Gefühl der Entmachtung an, das große Teile der Bevölkerung teilen; mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten zogen daraus den Schluss, den Wahlen fernzubleiben. Korruption und die ökonomische Übermacht einer Oligarchie sind Ausdruck einer peripheren Ökonomie, die von den wirtschaftlichen Zentren der EU abhängig ist. Gelder aus Brüssel dienen als Verteilungsmasse der herrschenden Eliten, die wiederum dafür sorgen, dass westlichen Firmen günstige und gefügige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Außerdem sichert Sofia an der Grenze zur Türkei die Abwehr von Geflüchteten ab. Berlin und Washington stören sich nicht an Borissows Autoritarismus, dessen Loyalität man sich gewiss ist.

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