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Keine Zukunft für Migranten in Libyen
EU will Regierung gegen Einwanderung helfen, während Menschenschmuggler neue Fluchtwelle vorbereiten
Mit Milizen verbündete Schmuggler schickten in den vergangenen zwei Wochen so viele Menschen in seeuntüchtigen Schlauchbooten auf das Mittelmeer wie zuletzt 2014. Allein an diesem Wochenende barg die libysche Küstenwache mehr als 1000 Menschen und brachte sie nach Misrata und Tripolis.
Nach Angaben der Organisation für Migration (IOM) retteten die libyschen Boote in diesem Jahr damit bereits 5000 meist aus Westafrika kommende Migranten. Zur Zahl der Ertrunkenen gibt es nur Schätzungen, denn die meisten Boote fahren von abseits gelegen Stränden der über 2000 Kilometer langen libyschen Mittelmeerküste ab. Immer wieder berichten libysche und tunesische Fischer über auf dem Mittelmeer treibende Reste von Bootswracks oder Leichen in ihren Netzen. 2300 Vermisste ermittelte IOM in Gesprächen mit geretteten Migranten im vergangenen Jahr. In den libyschen Häfen werden die Überlebenden von IOM-Mitarbeitern registriert, interviewt und dann in Lagerhallen gebracht, die von den libyschen Behörden in Gefängnisse oder Camps umgewandelt wurden. »Libyen ist kein sicherer Ort für Migranten und Flüchtlinge«, wiederholen die Sprecher von IOM und dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR seit vielen Jahren. Geändert hat sich nach Angaben von Mitarbeitern der Hilfsorganisation Roter Halbmond aber nur wenig.
Die Ende Februar gewählte Einheitsregierung von Abdul Hamid Dbeiba versichert ihren europäischen Unterstützern, dass die Lage der Migranten ein Schwerpunkt ihrer Arbeit sein werde. Doch wie wenig Einfluss der schwerreiche Geschäftsmann Dbeiba auf die Milizen in den westlibyschen Hafenstädten hat, zeigt die Entführung des vom Innenministerium entsandten Sicherheitschefs der Stadt Zuwara am Dienstagmorgen.
Wie im vergangenen Frühjahr schicken die Menschenhändler ihre Passagiere derzeit auch bei starken Winden und hohem Wellengang auf See. Weil die libysche Regierung die nationale Rettungszone (SAR) im Sommer 2019 eigenmächtig auf 70 Kilometer ausgeweitet hat, müssen die durchschnittlich 100 Menschen an Bord der Gummiboote mindestens einen Tag auf See überstehen, bis sie auf internationale Retter hoffen können.
Doch seit die italienischen und maltesischen Behörden die privaten Rettungsorganisationen mit juristischen Maßnahmen unter Druck setzen, kreuzen nur drei ihrer Boote vor den bekannten Schmugglerrouten Westlibyens. Moussa Kony aus Guinea-Bissau sah im Oktober 2020 bereits die Boote im Hafen der maltesischen Hafenstadt Valetta, nachdem er an Deck eines Fischerbootes bereits drei Tage auf See war. Der 24-Jährige schätzt, dass um die 200 Migranten und zwei tunesische Besatzungsmitglieder an Bord waren, als eine maltesische Marinepatrouille das Fischerboot mit Zulassung im tunesischen Mahdia stoppte. »Wir mussten zwei Tage an Bord warten und hatten kaum noch etwas zu trinken und zu essen. Dann kam ein tunesisches Marineschiff und begleitete uns in den südtunesischen Hafen von Zarzis«, erzählt Kony.
Migranten berichten von weiteren sogenannten Push Backs aus EU-Hoheitsgewässern, bei denen libysche und tunesische Schiffe auf Bitten maltesischer oder italienischer Behörden Flüchtlinge und Migranten zurück nach Nordafrika brachten. Moussa Kony ließ sich aber nicht von seinem Plan abbringen, die waghalsige Fahrt nach Europa noch einmal zu wagen. In vier Monaten verdiente er auf Baustellen in Zarzis die umgerechnet 500 Euro für einen Platz in einem Schlauchboot. Nachts schlich er sich mit zehn anderen Migranten über die libysche Grenze und wartete in Zuwara hinter den Mauern eines Schmugglercamps auf die nächste Überfahrt nach Europa. Der mit Mittelsmännern aus Westafrika zusammenarbeitende Milizenkommandeur machte den mit Booten vertrauten Kony zum Navigator des Gummiboots. Die Fahrt von den Stränden von Garabulli endete diesmal in einem Lager auf Malta. Drei Monate werden die aus Libyen kommenden Migranten auf Malta festgehalten, bevor die meisten sich frei bewegen dürfen und oft nach Nordeuropa weiterziehen.
Moussa Kony haben nicht nur die in Südtunesien und Libyen verbreiteten Vorurteile gegen Dunkelhäutige und Christen zur Fortsetzung seiner Flucht getrieben. Die libyschen Milizen nutzen den fehlenden rechtlichen Schutz von Migranten und die Angst vor Fremden aus. »Die willkürlichen Verhaftungsaktionen dienen dazu, sich bei der Öffentlichkeit als Verteidiger der Bürger darzustellen«, bestätigt Mohammed Sifau, der für die Hilfsorganisation Roter Halbmond in der Stadt Zauwia arbeitet. Die Hafenstadt zwischen Tripolis und der tunesischen Grenze ist in Machtbereiche zweier Milizengruppen gespalten. Während die Kämpfer von Mohammed Bahoun, genannt »Die Maus«, vom Staatsanwalt der Einheitsregierung wegen Entführungen von Staatsbediensteten per Haftbefehl gesucht werden, verhaften die konkurrierenden lokalen Straßengangs Migranten auf offener Straße, wo sie für Bahoun Benzin in Flaschen verkaufen.
30 offizielle Migrantenlager gibt es in Libyen, die Zahl privater Gefängnisse ist unbekannt. In Zauwia gibt es ein offizielles Lager mit 3000 Insassen und sieben sogenannte Gettos. In der westafrikanischen Migranten-Gemeinde sind die Namen der Kontaktleute zu den Milizen bekannt; Fragen beantworten sie einfach per Facebook. »Oft kommen Geschäftsleute in die Gettos und bestellen Arbeitskräfte für den Transport, für Baustellen oder suchen bestimmte Handwerker. Die Bezahlung geht direkt an die Milizen, die Migranten für eine Gebühr von umgerechnet 400 Euro nach ein paar Monaten weiterziehen lassen«, sagt Moussa Kony.
Die EU setzt dennoch auf Kooperation mit der Einheitsregierung Dbeiba. Bei einem Besuch in Tripolis versprach Ratspräsident Charles Michel am Sonntag, Libyen bei seiner wirtschaftlichen Erholung, der Organisation von Wahlen und dem »Kampf gegen illegale Einwanderung« zu helfen. Migration nannte Michel als bedeutendstes Thema in den Beziehungen zwischen der EU und Libyen. Mit der Marine-Mission »Irini« überwachen EU und Nato vor der libyschen Küste das seit 2011 geltende Waffenembargo. Spektakuläre Funde wie eine Lieferung von Flugbenzin durch die deutsche Fregatte »Hamburg« im Oktober 2020 zeigen, wie effektiv libysche und europäische Behörden zusammenarbeiten könnten.
Doch bei Migration herrscht Funkstille. Schiffe der »Irini«-Mission sind außerhalb der libyschen SAR-Zone und vor der ostlibyschen Küste im Einsatz. Die sechs funktionstüchtigen libyschen Marineschiffe kreuzen vor der Westküste. Der Kommandeur der libyschen Küstenwache im Bereich Mitte, Rida Issa, sagt, dass Europa nicht länger die libysche Küstenwache einspannen könne, ohne ausreichend Training und Ausrüstung zu liefern: »Anders als die Milizen haben wir nicht genügend Ausrüstung, um die Sicherheit unserer Besatzungen zu gewährleisten.«
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