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»Blut an euren Händen«

Aktivist*innen stören mit Blockaden Sammelabschiebung nach Afghanistan

  • Marie Frank
  • Lesedauer: 5 Min.

Plötzlich geht alles ganz schnell: Rund 150 Menschen rennen am Mittwochabend auf den Zaun am Terminal 5 des BER zu, hinter dem sich der Abschiebeflieger nach Afghanistan befindet. Die Polizist*innen, klar in der Unterzahl, hechten den Demonstrant*innen hinterher und schaffen es noch geradeso, Polizeiautos zwischen die Menschenmenge und den Zaun zu fahren. Die sichtlich überforderten Beamt*innen gehen dabei mit Gewalt gegen die Aktivist*innen vor: Pfefferspray wird eingesetzt, die Menschen wahllos brutal auf den Boden geschubst, unter ihnen auch die Reporterin des »nd«. Nur knapp gelingt es ihnen, die Demonstrant*innen zu stoppen, die fest entschlossen sind, die Abschiebung in allerletzter Minute noch zu verhindern.

Einige wenige schaffen es bis an den Zaun. Mit Tränen in den Augen, die nicht nur vom Reizgas der Polizist*innen stammen, können sie nur noch wütend und fassungslos zuschauen, wie 20 afghanische Geflüchtete nach und nach in den Flieger der spanischen Chartergesellschaft Privilege Style verfrachtet werden, um in das kriegsgebeutelte Land am Hindukusch abgeschoben zu werden. Gegen 21.20 Uhr hebt der Flieger dann von Schönefeld Richtung Kabul ab. »Blut, Blut, Blut an euren Händen«, rufen die Protestierenden Richtung Polizei, ansonsten bleibt es friedlich. Gegen 21.45 Uhr löst sich die Versammlung dann auf.

Bereits zuvor hatten die Aktivist*innen die Abschiebung der 20 Männer in den drohenden Tod zu stören versucht. Gegen 18.30 Uhr trafen sich zwei Gruppen von je rund 70 bis 80 Menschen und strömten aus verschiedenen Richtungen auf das Betriebsgelände des Flughafens. Vor dem Gebäude, in dem sie die inhaftierten Geflüchteten vermuteten, blockierten sie die Eingänge und trotzten mit Transparenten dem böigen Wind. Die Polizei war auch hier deutlich in der Unterzahl und ließ die Demonstrant*innen gewähren, nur vereinzelt wurden Menschen mit Gewalt weggezerrt.

Nachdem sich jedoch andeutete, dass sich wohl doch keine Betroffenen in dem blockierten Gebäude des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und den Containerbauten daneben befinden, formierten sich die Aktivist*innen rasch neu und blockierten die Bundesstraße, um die Anfahrt der Geflüchteten zu verhindern. Später zogen sie dann als Spontandemonstration zur Kundgebung am Flughafen, wo sie begeistert empfangen wurden. Insgesamt beteiligten sich rund 500 Menschen an den Protesten, zu denen ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen aufgerufen hatte.

Im Fokus der Kritik stand neben Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der sich 2018 zu seinem 69. Geburtstag über die Abschiebung von 69 Flüchtlingen gefreut hatte, auch Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD), da unter den Abgeschobenen auch zwei Afghanen aus Berlin dabei gewesen sein sollten. Grüne und Linke kritisierten das als Verstoß gegen den Koalitionsvertrag. Am Donnerstag teilte die Senatsinnenverwaltung mit, dass unter den Abgeschobenen niemand aus der Hauptstadt gewesen sei. »Berlin war nicht an der Abschiebung beteiligt«, so ein Sprecher. Das Bundesinnenministerium bestätigte am Donnerstag, dass die sieben Bundesländer Brandenburg, Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Sachsen beteiligt waren.

Es war die 38. Sammelabschiebung seit dem ersten derartigen Flug im Dezember 2016. Damit haben Bund und Länder bisher 1035 Männer nach Afghanistan abgeschoben. Und das, obwohl das Land zu den unsichersten der Welt zählt. »Die Menschen, die nach Afghanistan zurückkehren, haben keine Perspektive«, sagt Mahdi Hossaini. Der 21-Jährige ist selbst mit 16 Jahren von dort geflohen und lebt mittlerweile seit fünf Jahren in Berlin. Auch sein Asylantrag wurde abgelehnt, der angehende Krankenpfleger hofft nun auf eine Ausbildungsduldung. Doch selbst wenn er damit Erfolg hat, könnte die Sicherheit nur von kurzer Dauer sein: Nach Ende seiner Ausbildung im September wäre er erneut von Abschiebung bedroht. Die Vorstellung, eines Tages zurückkehren zu müssen, belastet den Geflüchteten schwer. »Wenn ich abgeschoben werden würde, würde ich von der Taliban getötet – oder von der Regierung«, ist sich Hossaini aufgrund seines politischen Engagements sicher.

Dieses Schicksal könnte auch den 20 abgeschobenen Männern drohen: Laut jüngstem UN-Sicherheitsbericht hat die Gewalt in sämtlichen Regionen Afghanistans im vergangenen Jahr zugenommen: Mehr bewaffnete Zusammenstöße, mehr Sprengstoffanschläge, die Zahl der gezielten Mordanschläge ist um 27 Prozent gestiegen. Trotz der Aufnahme von Friedensgesprächen im September geht der Konflikt mit den militant-islamistischen Taliban weiter. In den vergangenen zehn Jahren wurden dabei insgesamt mehr als 100.000 Zivilist*innen getötet oder verletzt. Auch die Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) ist in dem Land aktiv. Die Wirtschaft und das ohnehin schon schwache Gesundheitssystem Afghanistans werden durch die Corona-Pandemie zusätzlich belastet.

Trotzdem bringt seit vergangenen Dezember monatlich ein Flieger abgelehnte Asylsuchende nach Afghanistan. »Sie haben kein Geld und müssen arbeiten, es gibt aber kaum Arbeit, also werden viele von ihnen von der Taliban rekrutiert«, sagt Mahdi Hossaini. Auch vor dem sich zunehmend ausbreitenden Coronavirus gebe es keinen Schutz, weiß er von Bekannten vor Ort.

Hossaini selbst musste in seiner alten Heimat arbeiten seit er neun Jahre alt war, um seine Familie zu ernähren, für Schule war da keine Zeit. Dennoch schaffte er nach seiner Flucht nach Berlin den Mittleren Schulabschluss mit einem Durchschnitt von 1,9. Das war harte Arbeit: »Mir wurde gesagt, wenn ich mich gut integriere, werde ich nicht abgeschoben. Also habe ich Deutschkurse besucht, deutsche Kultur und Geschichte kennengelernt und deutsche Freunde gefunden – obwohl ich schwer traumatisiert war.« Seine Gefühle habe er einfach in sich reingefressen und aufgepasst, dass er sich nichts zu Schulden kommen lässt. Als sein Asylantrag trotzdem abgelehnt wurde, fiel er in ein tiefes Loch. Doch er hat sich herausgekämpft, will als Krankenpfleger anderen Menschen helfen und hofft inständig, nicht auch eines Tages in einen Flieger nach Kabul gesteckt zu werden.

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