- Berlin
- Deutsche Wohnen & Co enteignen
Enteignung unter Marktwert
Experten fordern neue Berechnungsmaßstäbe für Sozialisierung
Wie hoch muss die Entschädigung für renditeorientierte Großvermieter ausfallen, wenn ihre Berliner Bestände, wie von der Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen intendiert, per Gesetz in Gemeineigentum überführt werden? Der Berliner Senat geht in seiner auf dem Verkehrswert mit gewissen Abschlägen basierenden Kostenschätzung zum Volksbegehren von 29 Milliarden Euro für 200 000 Wohnungen aus. Die Initiative rechnet nur mit einem Bruchteil der Kosten. Schützenhilfe erhält sie jetzt von wissenschaftlicher Seite.
In einem am Freitag in einem digitalen Werkstattgespräch der Frankfurt University of Applied Sciences diskutierten Thesenpapier legen die Volljuristin Franziska Drohsel sowie Fabian Thiel, Professor an der Fachhochschule der Mainmetropole und Experte für Immobilienbewertung, dar, warum der Verkehrswert nicht der Maßstab sein kann.
Dieser Text stammt aus unser Wochenendausgabe. nd.Die Woche nimmt Geschehnisse in Politik und Gesellschaft hintergründig unter die Lupe. Politische und wirtschaftliche Analysen, Interviews, Reportagen und Features, immer ab Samstag am Kiosk oder gleich mit einem Wochenendabo linken Journalismus unterstützen.
»Politisch habe ich das Volksbegehren angesichts der Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt von Anfang an unterstützt, außerdem bin ich begeisterte Verfassungsrechtlerin«, sagt Drohsel zu »nd«. Die einstige Bundesvorsitzende der Jusos hat viele Jahre am Lehrstuhl des renommierten Verfassungsrechtlers Ulrich Battis an der Berliner Humboldt-Universität gearbeitet und ist bis heute SPD-Mitglied. Der schon bei seiner Erarbeitung politisch sehr umstrittene Artikel 15 des Grundgesetzes, auf dem das Enteignungs-Volksbegehren fußt, sei »dogmatisch sehr interessant«, außerdem gebe es »noch überhaupt keine Rechtsprechung« dazu.
Bisher gibt es nur Gerichtsurteile zu Artikel 14 des Grundgesetzes, der Enteignungen beispielsweise für Verkehrsprojekte regelt. Inwieweit diese eine Orientierung für Artikel 15 sein können, sei »umstritten«, so Drohsel. »Aber selbst zu Artikel 14 hat das Bundesverfassungsgericht explizit festgehalten, dass eine starre, am Marktwert orientierte Entschädigung dem Gesetzgeber nicht aufgelegt ist«, sagt die Juristin. Sowohl hinsichtlich der Höhe als auch der Art der Entschädigung gebe es »erheblichen Spielraum für den Gesetzgeber. Weder eine Einmahlzahlung noch die Orientierung am Verkehrswert ist verfassungsrechtlich gefordert.«
»Wir brauchen einen neuen Wert für die sozial gebundenen Mehrfamilienhäuser und wollen die Diskussion um einen möglichen Sozialisierungs-Entschädigungswert beginnen«, sagt Bodenwert-Experte Fabian Thiel zu »nd«. Es sei dabei strikt zwischen der Enteignungsentschädigung und einer »Vergesellschaftungskompensation« zu unterscheiden. »Mit einem Paketpreis für die zur Vergesellschaftung vorgesehenen Wohnungen sollte keinesfalls gearbeitet werden«, warnt er. Zudem sei bei der Bewertung nach Boden und den darauf stehenden Gebäuden zu differenzieren.
»Ein Ansatz dafür wäre das in München vorsichtig begonnene Verfahren, einen Marktwert durch das residuale Rückrechnen von einer sozial gebundenen, aber für den Vermieter wirtschaftlich darstellbaren Zielmiete aus zu bestimmen«, sagt Thiel. Also zunächst eine Miete politisch festzulegen und aus den resultierenden Einnahmen einen Preis zu errechnen. Er nennt es ein »plausibles, aber nicht so gängiges Verfahren«. Das ist schon sehr nahe am von Deutsche Wohnen & Co enteignen vorgeschlagenen Faire-Mieten-Modell, bei dem die sozialisierten Bestände für 3,70 Euro pro Quadratmeter netto kalt vermietet werden sollen. Das ergäbe eine Entschädigung von acht Milliarden Euro.
In Berlin hatte der damalige Finanzsenator Ulrich Nußbaum (parteilos, für SPD) bereits 2012 in einem Eckpunktepapier ein ähnliches Verfahren als Potenzialwert bezeichnet. »Das ›Potenzial‹ des Wertes ergibt sich hier nicht aus dem highest and best use einer maximalen baulichen Ausnutzung des Grundstücks, sondern aus Nutzungen, die auch und gerade einen stadt- und kulturpolitischen Mehrwert aus der spezifisch sozialpflichtigen Nutzung eines Grundstücks ergeben«, erläutert Fabian Thiel. Dabei wird auch von der sogenannten Stadtrendite gesprochen. »Die Verkehrswertermittlung hat sich von dem, was die Erdenker der Wertermittlung intendiert haben, losgelöst. Denn diese Werte werden inzwischen spekulativ künstlich aufgebläht«, nennt Thiel den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. In der Republik wird gerade eine allgemeine Reform des Rechts der Grundstücksbewertung diskutiert, was auch eine lebhafte Debatte darüber beinhaltet, wie ein nachhaltiger Verkehrswert kalkuliert sein könnte.
Bei Deutsche Wohnen & Co enteignen ist man über den Aufschlag erfreut. »Endlich nimmt sich auch die Wissenschaft der Sache an und bestätigt unsere These, dass eine Entschädigung nach dem sogenannten Marktwert, der von den Immobilienkonzernen gezielt mit Buchungstricks hochgetrieben wird, der gemeinwirtschaftlichen Idee von Artikel 15 des Grundgesetzes widerspricht«, sagt Ralf Hoffrogge von der Initiative zu »nd«. »Denn Zweck von Gemeinwirtschaft am Wohnungsmarkt sind leistbare Mieten.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.