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»Das ist auch ein bewusster Protest«
Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder über den geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad in der Altenpflege und Beschäftigte, die aussteigen
Warum wird die Altenpflege von Politik und Gesellschaft nicht wertgeschätzt?
Das hat eine lange Historie und hängt mit der Entstehung der Altenpflege als nicht professioneller Frauentätigkeit in kirchlich-karitativen Kontexten zusammen. Da spielt auch der Begriff des Liebesdienstes mit rein, als der die Altenpflege aufgefasst wird. Das bedeutet, diese Tätigkeit hat sich entweder im häuslichen oder eben im kirchlichen Rahmen abgespielt. In der Altenpflege ist es erst sehr spät von einer Jederfrautätigkeit zu einer beruflichen Professionalisierung gekommen, die eine entsprechende Ausbildung und Einbettung benötigt und eine Vergütung und auch Anerkennung verschafft.
Wolfgang Schroeder ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kassel und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Im Jahr 2017 hat er mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung eine Studie zur Interessenvertretung in der Altenpflege erstellt. Lisa Ecke sprach mit ihm darüber, warum Beschäftigte in der Altenpflege trotz mieser Arbeitsbedingungen kaum gewerkschaftlich organisiert sind.
Foto: David Ausserhofer
Es gibt einen großen Mangel an Personal, die Arbeitsbedingungen sind sehr schlecht. Wie kommt es, dass trotzdem so wenige Beschäftigte aus der Altenpflege gewerkschaftlich organisiert sind?
Zum einen hat es von Anfang an in diesem Beruf kein kollektives Handeln gegeben. Gewerkschaften der Schwestern, Berufsverbände, all das ist sehr zögerlich und spät entstanden. Ein anderer Grund ist sicherlich die Berufsmentalität.
Wie ist denn die Berufsmentalität?
Viele meinen, es gebe eine extreme Verbindung zwischen Pflegekräften und Klienten, eine Verantwortungssymbiose. Diese führt wiederum dazu, dass sich nicht so einfach ein Arbeitnehmerbewusstsein herausbildet. Das Primäre ist dann diese Hilfstätigkeit, was auch dazu beiträgt, dass es wenig Organisierung, wenig Konfliktfähigkeit und kaum kollektives Handeln gibt.
Also identifizieren sich viele Beschäftigte mit der Rolle als selbstlose Helfer und fordern deshalb keine besseren Bedingungen?
Im Gegenteil, in dem Beruf arbeiten zu 80 bis 90 Prozent Frauen, und viele ergreifen diesen Job über Umwege. Sie haben den Beruf also nicht gelernt und hatten vielfach eigentlich gar nicht das Ziel, in der Altenpflege zu arbeiten, sondern sie haben auf dem Arbeitsmarkt nichts anderes gefunden. Sie mussten sich also mit ihrer beruflichen Situation arrangieren, und die Arbeit in diesem Job ist eben auch nicht der Kern ihrer Identität. Dieser ist möglicherweise die Familie oder noch andere Jobs, die sie ausüben. Zu der unzureichenden Identifikation mit dem Arbeitsfeld gehört auch, dass über 60 Prozent der Beschäftigten in der Altenpflege in Teilzeit arbeiten.
Woran liegt das?
Zum einen hängt das damit zusammen, dass die Einrichtungen teilweise wirklich nur Teilzeitjobs anbieten. Sie brauchen die Altenpflegekräfte oft früh morgens von fünf bis acht und dann abends noch einmal von fünf bis sieben. Eine noch wichtigere Rolle spielt aber, dass viele Beschäftigte selbst sagen: »Der Job ist zu anstrengend, ich bekomme zu wenig Anerkennung und zu wenig Erholung. Ich kann den Job nicht in Vollzeit ausüben.«
Hindert die Arbeitsbelastung Pflegekräfte daran, sich für ihre Interessen einzusetzen?
Wir haben vor fünf Jahren unsere erste Studie zu der Frage gemacht, warum sich Altenpflegekräfte nicht organisieren. Da kam als erstes heraus, dass 80 Prozent in ihrer Arbeit noch nie mit einem Gewerkschafter zusammengekommen sind. Laut Auskunft der Beschäftigten haben sie gar keine Vorstellung davon, was sich verändern könnte, wenn Gewerkschaften, Betriebsräte und Personalräte in ihrem Bereich wirken könnten. Wenn man keine Leute hat, die das angehen, die vorangehen, dann ist die Motivation, das zu tun, nicht sehr ausgeprägt.
Hat es in letzter Zeit überhaupt eine Organisierung von Beschäftigten in der Altenpflege gegeben?
Der Organisationsgrad bei Verdi ist gering. Mit dem Bochumer Bund gibt es eine neue Gruppe, aber auch zu deren Aktionsbemühungen seit anderthalb Jahren kann man kaum etwas sagen, die haben ja nur ein paar hundert Mitglieder. Man kann noch nicht abschätzen, ob sich da etwas tut. Die ganze Branche hat, je nachdem, wie man rechnet, über eine Million Beschäftigte.
Hat der geringe Organisierungsgrad bei Verdi auch etwas mit dem Mindestmitgliedsbeitrag zu tun? Wer so wenig verdient, den schmerzt natürlich jeder Euro weniger in der Tasche.
Es ist möglich, dass die Beschäftigten nicht einsehen, warum sie ein Prozent ihres Bruttolohns für den Gewerkschaftsbeitrag zahlen sollen.
Spielen die Betriebsräte in Altenpflegeheimen wegen der geringen gewerkschaftlichen Organisierung eine größere Rolle als in anderen Branchen?
Die Stärke der Betriebsräte und Mitarbeitervertretungen fällt sehr unterschiedlich aus. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass betriebliche Interessenvertreter mit einer Gewerkschaft im Rücken mehr Unterstützung haben. Aufs Ganze betrachtet sind die Betriebsräte und Mitarbeitervertretungen nicht besonders stark. Es geht teilweise so weit, dass in diesen Interessenvertretungsorganen nicht die Pflegekräfte sitzen, sondern Hausmeister und technische Arbeitskräfte, die mit der Arbeit der Altenpflege an sich wenig tun haben.
Also sind in den Interessenvertretungen teils pflegefremde Berufsgruppen aus den Heimen vertreten - und damit auch mehr Männer, als es ihrem Anteil an der Belegschaft entspricht?
Genaue Zahlen liegen mit dazu nicht vor. Es gibt aber viele Hinweise, die in diesem Sinne gedeutet werden können.
Wie erklären Sie sich nun die geringe gewerkschaftliche Organisierung in der Altenpflege?
Naja, der Job ist sehr kräftezehrend. Hinzu kommt, dass viele der Frauen zusätzliche Tätigkeiten erfüllen müssen. Sie haben oft Familie, verrichten auch zu Hause Carearbeit. Sie haben häufig weder Kraft noch Zeit noch Motivation. Dazu kommt der Teufelskreis der Interessenvertretung: Wo niemand ist, der andere anspricht, motiviert und zeigt, wie es geht, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass Zeit für die betriebliche oder überbetriebliche Interessenvertretung aufgebracht wird.
Hat auch die Größe der Betriebe einen Einfluss auf den geringen Organisierungsgrad?
Ja, das ist auch ein wichtiger Punkt. Die Einrichtungen sind meist sehr klein. Es sind nicht die großen Krankenhäuser, sondern kleine bis mittlere Einrichtungen. Besonders wenig förderlich für kollektives Handeln ist die Arbeit in der ambulanten Altenpflege.
Sehen Beschäftigte in der Altenpflege den wichtigsten Handlungsbedarf beim Gehalt oder bei anderen Aspekten?
Für viele ist das wichtigste, dass mehr Personal da ist, um mehr Zeit für jeden einzelnen Menschen zu haben, der betreut werden soll. Sie haben ein Interesse an weniger Arbeitsverdichtung, weniger Stress, der Faktor Zeit wird schon sehr hoch bewertet. Und dann auch die Entlohnung, wobei es so ist, dass die im Vergleich zu anderen Berufen mit ähnlichen Qualifikationsbedingungen nicht schlecht ist. Die Mehrheit arbeitet aber in Teilzeit, und damit kann man in diesem Beruf kein Einkommen erzielen, das am Ende zu einer eigenständigen Rente führt. Das ist skandalös. Aber das hängt weniger an den Tarifverträgen, sondern daran, dass zu viele in Teilzeit sind und dass die Tarifverträge oft nicht angewendet werden.
Aber laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung verdienten Fachkräfte in der Altenpflege im Jahr 2019 im Schnitt fast 520 Euro weniger als Fachkräfte in der Krankenpflege. Auch Helfer in der Altenpflege haben über 530 Euro weniger verdient als Helfer in der Krankenpflege. Wie kann das sein?
In den Krankenhäusern ist die Organisationskraft stärker, es sind große Einrichtungen, die Ärzte sind super organisiert, und im Sog haben sich auch die Krankenpflegerinnen und -pfleger organisiert.
Was müsste passieren, damit sich die Arbeitsbedingungen in der Altenpflege bessern?
Einerseits braucht es bessere Rahmenbedingungen, die durch den Staat und die öffentlichen, wohlfahrtsverbandlichen und privaten Träger organisiert werden. Aber das ist unzureichend, wenn nicht auch etwas von unten kommt. Es bedarf schon einer eigenständigen Organisierung der Betroffenen. Denn durch die paternalistische Politik von oben wäre zwar schon viel gewonnen, es wird aber unzureichend sein, um eine wirklich arbeitnehmerfreundliche Arbeitswelt zu schaffen.
Wenn aber nicht zu erwarten ist, dass in nächster Zeit die Initiative von unten kommt, was könnte denn von oben nochgetan werden, um die Verhältnisse zu verbessern?
Es ist etwa denkbar, dass die Sozialversicherungen die Vergabe von Aufträgen in der Pflege daran binden, dass in den Einrichtungen Tarifverträge angewendet werden und es Betriebsräte gibt. Ideal wäre ein Zusammenspiel von oben und unten, damit durch Konflikte und Verhandlungen der Beruf aufgewertet wird. Aber es fehlt gegenwärtig die kritische Masse, um eine solche Organisation in der Altenpflege zu initiieren.
Viele Beschäftigte sind im Zuge der Corona-Pandemie aus der Altenpflege ausgestiegen. Das ist ja auch eine Art von aktivem Handeln für bessere Arbeitsbedingungen. Vielleicht nur anders, als man es sich von außen wünscht.
Ja, das ist auch ein bewusster Protest. In einer älter werdenden Gesellschaft muss Politik vermehrt in die Altenpflege investieren. Man muss auch schauen, wie das private Investment in diesem Bereich verläuft, wie das besser reguliert werden kann. In der Pflege sollte man nur dann viel Geld verdienen können, wenn zugleich die Bedarfe der zu Pflegenden wie auch der Pflegekräfte auf einem ebenso hohen Niveau abgedeckt werden können.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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