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Die Größe des Problems
Nächste Woche könnte im George-Floyd-Prozess das Urteil fallen
George Floyd, im Leben ohnehin groß gewachsen, wirkt im Tod überlebensgroß. Das Bild ging um die Welt, wie der Polizist Derek Chauvin mehr als neun Minuten lang sein Knie auf den Hals des Afroamerikaners drückte, bis zu seinem Tod. Floyd wurde zur Ikone, Chauvin blieb für die Öffentlichkeit dagegen beinahe anonym, auch weil er sich gegen eine Aussage vor Gericht entschied.
So lieferte auch der Prozess bis vor den Schlussplädoyers merkwürdig wenige Worte. Selbst das konservative »Wall Street Journal« beklagte sich, dass die Verhandlung zu einer Schlacht der Experten geworden sei. Chauvin war fast 20 Jahre Polizist auf den gefährlichsten Straßen von Minneapolis. Es wäre wichtig gewesen, seine Geistesverfassung und Haltung zu erörtern. Doch bestand er auf seinem Recht zu schweigen. Denn in diesem Fall hätte der 45-Jährige nicht behaupten können, dass er Angst um sein Leben hatte. Floyd lag nicht nur auf dem Boden, sondern auch in Handschellen.
Chauvins Verteidiger Eric J. Nelson stützt sich daher auf eine andere Theorie: Nicht Chauvin habe Floyds Tod bewirkt, sondern die Fesselung nach seiner Verhaftung. Entgegen dem Augenschein sei Chauvins Knie keineswegs eine »Mordwaffe«. Letztlich seien die schlechte Gesundheit des 46-Jährigen, seine Herzkrankheiten und sein Drogenkonsum schuld daran, dass er starb.
Kronzeuge der Verteidigung ist der ehemalige Chief Medical Officer aus Maryland, David Fowler, der attestierte, dass die Todesursache schlicht nicht festzustellen sei. Zu schwach sei Floyds Herz gewesen, zu erregt sein seelischer Zustand. Ein Video von einer Verhaftung Floyds im Jahr 2019 wurde den Geschworenen gezeigt, in dem dieser äußerst verwirrt wirkte. Die lokalen Mediziner dagegen waren fest überzeugt, dass die Todesursache Ersticken war. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Fowler eine sehr ähnliche Beurteilung im Jahr 2019 abgegeben hatte, als er bescheinigte, dass der 19-jährige Afroamerikaner Anton Black an Herzversagen und bipolarer Störung gestorben sei, nachdem Polizisten ihn zu Boden geworfen hatten. Die Familie Black hat Fowler nun angeklagt.
Die Verteidigung war auf auswärtige Experten angewiesen, weil die Polizeispitze von Minneapolis sich komplett gegen Chauvin gestellt hatte: Keinem Polizisten in Minneapolis werde jemals im Training beigebracht, auf dem Hals eines Verhafteten zu knien. Die Verteidigung stellte einen Experten aus San Diego, Barry Brodd, der behauptete, dass die gewaltsame Fesselung eines aufgeregten, sich der Haft widersetzenden Mannes durchaus gerechtfertigt sei. Schließlich habe die Polizei weite Befugnisse. Doch der Polizeichef von Minneapolis, Medaria Arradondo, der für die Anklage in voller Uniform erschien, erklärte, dass solche Aggression allenfalls bei der eigentlichen Verhaftung erlaubt sei, keineswegs danach.
Doch George Floyd war kein Einzelfall. Aktuell sorgt der Tod eines 13-Jährigen in Chicago für Entsetzen und Empörung. Letzte Woche wurde der 20-jährige Daunte Wright getötet, nur wenig entfernt von der Stelle, wo Floyd starb. Wie etwa 1000 weitere Menschen pro Jahr in den USA starben beide an Schüssen aus einer Polizeiwaffe. Chauvins Verteidigung forderte, die Geschworenen schon vor ihrer Klausur zur Urteilsfindung abzusondern, damit sie von dem Fall Wright nicht beeinflusst würden. Anwalt Nelson behauptete, dass die Polizeispitze von Minneapolis lange nicht mehr selbst patrouilliert sei und daher keine Ahnung habe, wie gefährlich die Straßen geworden seien.
Der Bürgerrechtler und Rechtsanwalt Albert Goins betonte dagegen, dass das Engagement gegen Unrecht die Straßen für die Bürger eher sicherer mache. Seit dem 1. März gibt es, durch Floyds Tod angeschoben, Reformen, die jedem Bürger Minnesotas das Recht auf Freiheit von »exzessiver Polizeigewalt« garantieren.
Issac J. Bailey, Journalist und Professor für Medienkommunikation im Davidson-College in North Carolina, äußerte gegenüber dem »nd« seine Zweifel: »Die Lage hat sich seit den 90ern insgesamt verbessert, aber damals waren die Verbrechensraten auch höher. Was passiert jetzt, wenn, wie im letzten Pandemiejahr, die Verbrechensraten generell steigen?« 40 000 Amerikaner sterben jedes Jahr an Schussverletzungen. Für Bailey ist es das Wesen dieser stets lauernden Gewalt, ein Klima der Angst für alle zu schaffen.
Er zitiert seinen Kollegen Radley Balko von der »Washington Post«, der die Angst der Polizisten vor Verkehrsstopps für übertrieben hält. Von 30 Millionen Verkehrsstopps in den USA jährlich endeten nur fünf bis zehn tödlich für Polizisten. Bailey gibt die Schuld daran der Allgegenwart von Waffen, die selbst dann eine zersetzende Rolle spielen, wenn sie nicht zum Einsatz kommen. Und er hebt hervor, dass die Freundin von George Floyd eine Lehrerin von Daunte Wright war. »Diese Verbindung zwischen Floyd und Wright unterstreicht die Größe des Problems«, so Bailey. Es gehe um »overpolicing«, also die übermäßige Präsenz von Polizei in bestimmten Gebieten, aber auch um so viel mehr als das. Als Schwarzer Mensch fühle er sich mit den meisten Schwarzen in seinem Land verbunden, auch mit denjenigen, die er nie kennengelernt habe. »Die Frage ist: Wie lange wird die Angst eines blaugekleideten Polizisten mehr wiegen als mein schwarzes Leben?«
Während der Tat forderte Chauvin die Umstehenden auf zurückzustehen, schließlich sei Floyd »ziemlich groß«. Er verriet keine Angst um sein Leben, sondern so etwas wie Stolz ob der Größe einer Beute. Er wird des Mordes zweiten und dritten Grades beschuldigt, aber auch des Totschlags zweiten Grades. Letzteres ist üblich, wenn Jäger auf ihrer Suche nach Beute einen tödlichen Unfall verursachen. Im waldigen Minnesota passiert so etwas nicht selten.
Recht statt Gerechtigkeit. Stephan Fischer sieht die Grenzen des George-Floyd-Prozesses
Zur Zeit strömen 3000 Nationalgardisten nach Minneapolis, um dem Polizisten Beistand zu leisten. Nach den Schlussplädoyers der Anklage und des Verteidigers am kommenden Montag werden die Geschworenen entscheiden, ob Chauvin am Tod von George Floyd schuldig war oder nicht, und wenn ja, zu welchem Grad. Das Urteil könnte schon nächste Woche fallen.
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