Gemeinsam in der Abstiegsgesellschaft

Ein Plädoyer für eine Klassenpolitik und für eine Betrachtung von Akademikern auf der Höhe der Zeit

  • Nicole Gohlke
  • Lesedauer: 6 Min.

»Die linken Parteien sind Akademikerparteien geworden«, beklagt nicht nur Sahra Wagenknecht. Sowohl in der Partei Die Linke als auch in der SPD werden Stimmen laut, die vor einem Verlust des klassisch linken Wähler*innenmilieus der Arbeiter*innen und sozial Benachteiligten warnen. Die Kritiker*innen eint die Sorge, dass die soziale Frage als politischer Kernbestandteil linker Politik gegenüber politischen Kämpfen um Gender und Sexualität oder gegen ethnische Stigmatisierung und nationalistische Ausgrenzungen in den Hintergrund rückt. Gerade die Partei Die Linke stehe vor einer Richtungsentscheidung: Weil sich die »kleinen Leute« nicht für diese »identitätspolitischen« Fragen interessieren würden, werde Die Linke zunehmend eine Partei urbaner besser gebildeter und verdienender Milieus.

Die Debatte eines Auseinanderdriftens von linken Parteien und ihrer traditionellen Wählerbasis wurde gerade in Deutschland auch durch den 2016 erschienenen autobiografischen Roman »Rückkehr nach Reims« von Didier Eribon inspiriert. Allerdings mahnte der Autor sein deutsches Publikum, dass er gerade keinen Gegensatz zwischen Verteilungsfragen und vermeintlich »identitätspolitischen« Positionen konstruieren, sondern diese im Interesse der Lohnabhängigen verbinden wollte.

Zur Autorin

Nicole Gohlke, Jahrgang 1975, ist seit 2009 Bundestagsabgeordnete der Linken. Sie ist hochschul- und wissenschaftspolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Der hier veröffentliche Text ist die Kurzfassung eines Artikels, der kürzlich auf der Internetseite der Zeitschrift »Luxemburg« erschien, die von der Rosa- Luxemburg-Stiftung herausgegeben wird.

In einer ganz ähnlichen Weise lässt sich auch die diskursive Grenzziehung zwischen Akademiker*innen und den »kleinen Leuten« problematisieren. Denn während der Arbeiter*innenklasse wieder mehr Aufmerksamkeit zu Teil wird, wird kaum gefragt, was es mit »den« Akademikern auf sich hat. Lässt sich hier überhaupt von einer mehr oder weniger einheitlichen Gruppe reden? Befinden sie sich in einem so scharfen Gegensatz zu den Arbeiter*innen - oder leiden sie nicht vielfach unter ähnlichen strukturellen Entwicklungen?

Tatsächlich stellen Akademiker*innen heute einen bedeutenden Teil der Klasse der Lohnabhängigen. Das Hochschulstudium - die Voraussetzung, Akademiker zu sein - hat seine Exklusivität längst verloren. Mehr als die Hälfte eines Schuljahrgangs beginnt ein Studium. Rund drei Millionen Menschen studieren in der Bundesrepublik, nie waren es mehr. Und gemeinsam mit der Exklusivität verschwinden auch viele Privilegien. Der überwältigende Teil an Hochschulabsolvent*innen landet in klassischen Lohnarbeits- und Abhängigkeitsverhältnissen. Zwischen 2008 bis 2018 stieg der Anteil von Akademiker*innen in der erwerbstätigen Bevölkerung vier Mal so stark wie der von »Arbeitern« und »Angestellten« insgesamt.

Ein abgeschlossenes Studium steigert zwar noch immer die Wahrscheinlichkeit in einer eher selbstbestimmten, mitunter auch überdurchschnittlich bezahlten Erwerbsposition zu landen. Allerdings gilt dies längst nicht für alle Studiengänge und seltener für Frauen. Viele Einstiegsgehälter von Hochschulabsolvent*innen sind heute kaum höher als in Lehrberufen, in manchen Branchen erzielen Akademiker*innen im Vergleich zu Absolvent*innen mit einer Meister- oder Technikerausbildung zur Meister*in oder Techniker*in geringere Einkommen. Ein Studium bedeutet auch nicht durchweg eine größere Jobsicherheit: Vielen Studiumsabsolvent*innen gelingt der Übergang in feste Anstellungen - etwa in der Wissenschaft - jahrelang nicht. Jeder sechste Job, den die großen Leiharbeitsfirmen vermitteln, wird von Akademiker*innen ausgeübt.

All diese Entwicklungen zeigen, dass die pauschale Gegenüberstellung von Arbeiter*innenklasse und elitären »akademischen Mittelschichten« kaum aufrecht zu erhalten ist. Stattdessen lässt sich an ihnen eine langfristige Akademisierung des Arbeitslebens als Begleiterscheinung des Übergangs von der Industrie- zur Dienstleistungsökonomie ablesen, die starke Auswirkungen auf die Politik linker Parteien hat und sie vor große Herausforderungen stellt.

Die Wurzeln dieses Prozesses liegen in den späten 1950er Jahren. Der Kapitalismus modernisierte sich wie häufig in der Geschichte dadurch, dass es ihm gelang, linke Forderungen zu integrieren. Tatsächlich überschnitten sich kapitalistische Interessen mit zuvor vor allem von linken Bewegungen geäußerten Forderungen eines demokratischeren Zugangs zu akademischer Bildung. Ihnen galt Bildung als Instrument zur Veränderung der Gesellschaft und Emanzipation der Arbeiter*innenklasse.

Andererseits lag der Ausbau akademischer Bildung aber auch im Interesse der Wirtschaft, die qualifizierte Arbeitskräfte für die zunehmend wissenszentrierte Wirtschaft gewinnen musste. So überschnitten sich die Forderungen von Bildungsexperten, Politikern und Wirtschaftsvertretern mit denen von linksliberalen Reformforderungen und denen der Regierungskoalitionen der 1960er und 1970er Jahre. Hochschulgründungen bedeuteten eine deutliche Zunahme von Studierenden, die »Massenuniversität« und die Einführung des Bafög als Bildungsaufstiegsinstrument bot auch den sprichwörtlich »kleinen Leute« Chancen auf akademische Bildung.

Gleichzeitig veränderte das Studium seinen Charakter: Das romantische Ideal freier Bildung wurde von den Anforderungen von Wirtschaft und staatlicher Verwaltung überlagert, um den wachsenden Bedarf an Ingenieuren, Verwaltungskräften und leitenden Angestellten zu decken.

Der Zugang zur akademischen Bildung bedeutete, dass innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen die Differenzen zwischen Arbeiter*innen, die manuelle Tätigkeiten ausführten, und Angestellten, die »Kopfarbeiten« nachgingen, verschmolzen. Seit den 1970er Jahren haben Automatisierung und Globalisierung von Produktionsketten in Deutschland zu einem Abbau industrieller Arbeitsplätze und der Zunahme eines großen und ausdifferenzierten Dienstleistungssektors geführt.

Im Zuge dieser Entwicklung wurden Arbeitsverhältnisse flexibilisiert - die »festen« Verhältnisse der Industriemoderne wurden von »flüchtigen« Verhältnissen der »flüssigen« Moderne abgelöst, die der Soziologe Zygmunt Baumann beschrieben hat. Spätestens seit dem neoliberalen rot-grünen Sozialabbau der 2000er Jahre hat die Tendenz zur Prekarisierung von Arbeit und Leben in alle Bereiche der Wirtschaft Einzug gehalten. Eine »Abstiegsgesellschaft« (Oliver Nachtwey) ist entstanden, in der es schwerer fällt, soziale Positionen zu verteidigen.

Diese Entwicklungen bewirkten neue Spaltungen innerhalb der lohnabhängigen Bevölkerung. Festangestellte stehen prekären Leiharbeiter*innen und Werkvertragsarbeiter*innen gegenüber und genießen eine deutlich höhere Jobsicherheit und vielfach auch höhere Gehälter. Deutschland hat heute eine der »wettbewerbsfähigsten« Volkswirtschaften der Welt - verfügt aber auch über den größten Niedriglohnsektor in Europa. Beispielsweise verfügen die oftmals nicht studierten Angestellten in der Metall- und Autoindustrie auch durch ihre hohe gewerkschaftliche Organisierung über sichere und sehr gut bezahlte Arbeitsverträge.

Dies gilt für Absolventen und Absolventinnen in Studiengängen wie Soziale Arbeit, Krankenpflege, Ergotherapie, frühkindliche Erziehung oder neuerdings Hebammenkunde nicht ohne weiteres. Die Prekarisierung ist Folge veränderter Anforderungen an qualifizierte Arbeitskräfte im modernen Kapitalismus und macht vor Akademiker*innen nicht halt. Auch sie sind den Zumutungen der neoliberalen Arbeitswelt ausgesetzt wie der Rest der Klasse der Lohnabhängigen. Auch sie haben mit sinkenden Löhnen, Arbeitsverdichtung, steigenden Arbeitszeiten, befristeten Arbeitsverhältnissen und drohender Arbeitslosigkeit zu kämpfen.

Gerade vor dem Hintergrund der Akademisierung weiter Teile der Lohnabhängigen verbietet es sich, Akademiker*innen pauschal gegen die »kleinen Leute« auszuspielen. Die polemische Gegenüberstellung von vermeintlich kulturellen und materiellen Fragen oder die Trennung von Belangen der sexuellen Orientierung und Minderheitenrechte von harten Verteilungsforderungen unternehmen gar nicht erst den Versuch, nach möglichen Verbindungen zu suchen.

Selbstverständlich gibt es auch abseitige und nur schwer verständliche akademische und auch linke Diskurse. Gibt man sie aber als größten Teil des Ganzen aus, gleicht dieses Manöver den amerikanischen »culture wars«, in denen jeder progressiven Forderung der Ruch des Elitären verliehen wird, um sie der Lächerlichkeit preiszugeben. Es ist ein demagogisches Verfahren, das den Rechten in die Hände spielt.

Eine linke Klassenpolitik für das 21. Jahrhundert darf nicht sehnsuchtsvoll in die Vergangenheit schauen und den männlichen Industriearbeiter zum Idealbild verklären. Die Aufgabe einer zukunftsweisenden Klassenpolitik liegt darin, die Prozesse von Akademisierung und Prekarisierung gemeinsam zu verhandeln, um Politik im Interesse aller Menschen zu machen, die zur Lohnabhängigkeit gezwungen sind. Die Linke ist als Vertreterin dieser verschiedenen Milieus gefragt.

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