Bundestag gibt Bremse frei

Die Große Koalition hat weitreichende Änderungen des Infektionsschutzgesetzes beschlossen

Begleitet von einer Großdemonstration gegen die Corona-Politik hat der Bundestag am Mittwochvormittag zunächst abschließend über die Änderungen des Infektionsschutzgesetzes beraten und diese am Nachmittag dann beschlossen. Die sogenannte Bundes-Notbremse gibt der Bundesregierung nun die Möglichkeit, selbst Anti-Corona-Maßnahmen bundesweit einheitlich umzusetzen.

Während laut Polizeiangaben in Berlin mehr als 8000 Menschen auf der Straße des 17. Juni protestierten (am Nachmittag wurde die Demonstration von der Polizei wegen flächendeckender Verstöße gegen die Hygieneschutzbestimmungen aufgelöst), lieferten sich Opposition und Große Koalition im Reichstagsgebäude zu den geplanten Regelungen einen Schlagabtausch. SPD und Union verteidigten dabei die vorgesehenen Maßnahmen, vor allem Linken und Grünen gingen diese zum Teil hingegen nicht weit genug.

Ralph Brinkhaus, Vorsitzender der Unionsfraktion, appellierte zu Beginn der Debatte an die Abgeordneten, dem Vorhaben der Bundesregierung zuzustimmen. Die Notwendigkeit für das Gesetz unterstrich Brinkhaus auch mit der medizinisch sehr angespannten Lage. Nicht nur die Intensivmedizin sei überlastet, sondern das ganze Gesundheitssystem, so Brinkhaus. »Deswegen ist es notwendig, dass wir hier und heute handeln.« Ohne das Gesetz und seine Maßnahmen würden »Menschen krank, und dann werden Menschen sterben«. Brinkhaus wies zudem den Vorwurf zurück, mit dem Gesetz werde die Demokratie abgeschafft. »Nie war so viel Demokratie in der Pandemiebekämpfung wie jetzt«, erklärte er. Der Bundestag als höchstes Verfassungsorgan entscheide, was passiere, wenn sich das Infektionsgeschehen ändere.

Auch Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) betonte unter anderem, dass es sich um zeitlich begrenzte Maßnahmen handele: »Es geht nicht um einen Dauerzustand. Es geht darum, die Pandemie zu überwinden.« Die Regelungen sind bis Ende Juni befristet. Rasche Fortschritte seien laut Scholz vor allem für Kinder, Pflegekräfte, Ärzte und Unternehmen in finanziellen Nöten wichtig, ebenso für einsame Menschen: »Sie haben es verdient, dass wir schnell durch diese Sache kommen.« Die Lage sei unverändert ernst. Über mehr als 80 000 Tote könne man nicht hinwegreden und nicht hinwegsehen. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) betonte in seiner Rede die Notwendigkeit zur Kontaktreduzierung als Voraussetzung für die Rettung von Menschenleben. Derzeit lägen 5000 Menschen mit Covid-19 auf den Intensivstationen. Die Tendenz sei steigend, so Spahn, »bei sinkendem Alter der Patienten«. Die Zahl der Intensivpatienten folge dabei der Zahl der Neuinfektionen, erklärte Spahn. Dieser Zusammenhang sei eindeutig.

Für die FDP kündigte die gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion, Christine Aschenberg-Dugnus, erneut an, gegen die mit der »Bundes-Notbremse« geplanten Ausgangsbeschränkungen Verfassungsbeschwerde einzulegen. »Die vorgesehenen Ausgangssperren sind keine geeigneten Maßnahmen«, erklärte Aschenberg-Dugnus in der Debatte. »Sie schränken nur in unzulässiger Weise die Grundrechte ein und treiben die Menschen in den privaten Bereich.« Die Alternativen zur Notbremse seien gesteigertes Impfen und Testen sowie eine bessere Aufklärung über Kontaktvermeidung.

Die Grünen bemängelten vor allem, dass die Notbremse-Maßnahmen zu spät kämen und nicht weitreichend genug seien. »Insgesamt reichen diese Maßnahmen nicht aus, um tatsächlich eine Trendumkehr hinzubekommen«, so die Grünen-Abgeordnete Maria Klein-Schmeink. »Sie handeln zu spät, zu unwirksam«, warf sie der Großen Koalition vor.

»Ja, es geht um Leben und Tod. Das Pandemiegeschehen, das muss dringend eingedämmt werden«, erklärte für die Linksfraktion deren Vorsitzende Amira Mohamed Ali. »Aber was macht die Bundesregierung? Sie taumelt von einem Murks in den nächsten.« Obwohl Union und SPD ihre ursprünglichen Pläne noch nachgebessert hätten, legten sie nur Stückwerk vor, das die großen Probleme nicht lösen werde. »Und das ist unverantwortlich«, so Mohamed Ali. Die Regierung versuche, Grundrechte »praktisch im Vorbeigehen« einzuschränken und ihre Befugnisse massiv auszuweiten. »Die Linke wird das niemals akzeptieren. Wir lehnen Ihr Gesetz weiterhin ab.« Die Linksfraktionschefin kritisierte zudem, dass die Vorgaben für die Arbeitswelt zu weich blieben. »Ja, Homeoffice soll kommen, aber Sie kontrollieren es nicht richtig.« Ein reines Angebot für ein bis zwei Tests pro Woche reiche nicht aus. »Das ist doch zahnlos ... Die Zeit, da man immer nur ›Bitte, bitte‹ zu den Unternehmern sagt, die muss doch endlich vorbei sein!« Unverhältnismäßig sei auch, dass ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 nächtliche Ausgangssperren kommen sollten, Kinder aber bis zu einem Wert von 165 weiter zur Schule gehen sollten. »Woher haben Sie diese Zahlen? Würfeln Sie die aus?«, fragte Mohamed Ali.

Zur vom Bundestag beschlossenen Notbremse gehören weitgehende Ausgangsbeschränkungen von 22 Uhr bis 5 Uhr, Schulschließungen und strengere Bestimmungen für Geschäfte. In Kraft treten sollen die Regelungen, wenn in einem Landkreis oder einer Stadt die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen an drei Tagen hintereinander über 100 liegt. Für den Beginn von Distanzunterricht soll ein höherer Schwellenwert von 165 gelten. Die Änderungen des Infektionsschutzgesetzes sollen am Donnerstag in den Bundesrat gehen und schnell in Kraft treten.

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