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Wie Rassismus und Sexismus
Es ist wichtig, Diskriminierungserfahrungen behinderter Menschen nicht zu individualisieren, meint Verena Borchert
Ableismus ist ein Begriff, der in Deutschland weitestgehend unbekannt ist. Wenn ich ihn benutze, blicke ich in den meisten Fällen in fragende Gesichter oder schiebe sofort eine Erklärung hinterher: Ableismus beschreibt die systematischen Diskriminierungserfahrungen behinderter Menschen. Also Erfahrungen, die in Deutschland Millionen von uns tagtäglich machen müssen.
Wenn wir dann darüber reden wollen, fällt jedoch oft nur der Satz: »Wir sind doch alle ein bisschen behindert.« Es wird der Versuch unternommen, unser Erleben unsichtbar zu machen, indem unsere Erfahrungen schlicht individualisiert werden. Nach dem Motto: »Das ist nicht schlimm, das passiert jedem einmal.« Ja, jede*r verpasst einmal die Bahn, aber nicht jede*r muss regelmäßig mit kaputten Fahrstühlen oder nicht barrierefreien Zügen kämpfen und grundsätzlich für alle Wege 30 Prozent mehr Zeit einplanen. Um solchen Individualisierungsversuchen entgegenzutreten, kann der Begriff Ableismus hilfreich sein. Es ist wichtig, ihn bekannter zu machen.
Ableismus beschreibt ein System, das Menschen aufgrund ihrer (vermeintlichen) Fähigkeiten bewertet. Nichtbehinderung wird dabei als erstrebenswerte gesellschaftliche Norm verstanden, an der sich behinderte Menschen zu orientieren haben. Ganz praktisch kann das für uns bedeuten, dass - sollten wir es nicht schaffen, uns den gesellschaftlichen Anforderungen anzupassen - wir in Sondersystemen wie Heimen, Förderschulen oder Behindertenwerkstätten landen. Wir also systematisch ausgebeutet und uns Bildungschancen verwehrt werden.
Ableismus ist wie Rassismus und Sexismus ein System, in welches wir alle hineingeboren werden. Es prägt von Kindheit an unser Denken, Fühlen und Handeln. Deshalb kann auch niemand frei von Ableismus sein. Gleichzeitig heißt das, dass im Gegensatz zur Behindertenfeindlichkeit, die explizit feindliches Verhalten gegenüber behinderten Personen beschreibt, Ableismus nicht unbedingt explizit feindlich sein muss. Wenn mich fremde Menschen ungefragt duzen, oder mir flüchtige Bekannte zum Abschied wie bei einem Kind über den Kopf streicheln, hat das nichts offensichtlich Feindliches, wie etwa eine Beleidigung.
Ableistisch ist das Verhalten jedoch trotzdem, weil es mich als Mensch aufgrund meiner Behinderung abwertet. Ich werde nicht als erwachsene Person wahrgenommen, sondern in die Rolle eines unmündigen Kindes gedrängt, welches offensichtlich ungefragt angefasst werden darf. Ähnlich ist es mit Gehbehinderungen. Sie werden nahezu immer als individuelles Problem einer Person betrachtet, das es mit Hilfe von geeigneten Therapien zu lösen gilt. Die Nutzung eines Rollstuhls wird hierbei dann oft als Schicksalsschlag oder dramatischer Bruch in der Biografie der betroffenen Person beschrieben; als ein Ereignis, welches zu Abhängigkeit führt, und was es unbedingt zu vermeiden gilt. Auch das ist ableistisch, weil gesellschaftliche Normen teils systematisch über die Gesundheit und die Freiheit der oder des Einzelnen gestellt werden. Denn für mich bedeutet der Rollstuhl gerade das: ein freies und unabhängiges Leben nach meinen Vorstellungen und in Abwesenheit von Schmerzen führen zu können.
Zum Vergleich: Autofahren wird im Gegensatz zum Rollstuhl als Mittel der Fortbewegung sozial absolut akzeptiert, denn das Auto wird auch von nichtbehinderten Personen selbstverständlich genutzt. Niemand würde also auf die Idee kommen, die Nutzung eines Autos als Einschränkung zu betrachten und zu problematisieren. Allein die Vorstellung ist geradezu absurd.
Behindert arbeiten. Mehr als 300 000 Menschen mit Behinderung arbeiten in Deutschland für sehr wenig Geld in sogenannten Werkstätten.
Um Diskriminierung und persönliche Abwertung zu erkennen und sich den dahinterstehenden Normen bewusst zu werden, ist der Begriff Ableismus also sehr wichtig. Er kann behinderten Menschen dabei helfen zu erkennen, dass die alltäglichen Erfahrungen, die sie machen, nicht einfach individuelle Erlebnisse sind, sondern, dass es sich um strukturelle Diskriminierung handelt. Nichtbehinderten Menschen hingegen bietet sich so die Chance, ihr Verhalten in einem anderen Licht zu betrachten und das eigene Denken und Handeln vielleicht einmal kritisch zu überdenken.
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