Nur nicht ablenken lassen

SCHWARZ AUF WEIß: Die wirklich wichtigen Neuigkeiten verschwinden oft in der Rubrik »Vermischtes«. Das ist Absicht, meint Sheila Mysorekar

Wenn in den Medien wieder mal der Aufreger der Woche durch alle Blätter, Sendungen und Twitter-Accounts gejagt wird, verschwendet man viel Energie und Druckerschwärze auf Themen, die nicht wirklich entscheidend sind. Schauspieler*innen, die idiotische Videos posten, sind zwar ärgerlich, aber nicht wirklich relevant im Vergleich dazu, was gerade im Bundestag verabschiedet wurde: Nämlich ein Gesetz, das es Behörden möglich macht, Kopftuch und Kippa zu verbieten.

Wir sind zu oft mit Nebenschauplätzen beschäftigt. Wir lassen uns ablenken von den eigentlichen Kämpfen. Mit »wir« meine ich, wir Medienschaffenden, aber auch wir politisch Interessierten, Aktivist*innen, BPoC, und wir als Gesellschaft.

Sheila Mysorekar
Sheila Mysorekar ist Journalistin und war langjährige Vorsitzende der Neuen deutschen Medienmacher*innen. Heute ist sie Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, einem bundesweiten Netzwerk aus rund 170 postmigrantischen Organisationen. Für „nd“ schreibt sie die monatliche Medienkolumne „Schwarz auf Weiß“.

Diese Ablenkung ist zum Teil der extrem schnellen Dynamik in den sozialen Netzwerken geschuldet; zum Teil aber auch eine bewusste Strategie des sogenannten Derailing (dt.: zum Entgleisen bringen). Dies ist eine Technik, um öffentliche Debatten umzulenken, weg von einem heiklen Thema.

Ein typisches Beispiel ist die Diskussion über strukturellen Rassismus. Fachleute weisen regelmäßig auf die Existenz von strukturellem Rassismus hin, sowie auf Wege, ihn zu eliminieren. Dies wird jedoch schnell abgewürgt; stattdessen diskutiert man in Talkshows und im Feuilleton lang und breit über angebliche Sprachverbote von woken Aktivist*innen. Wenn wir nur noch darüber reden anstatt über Polizeigewalt, Racial Profiling und Diskriminierung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, dann ist das Derailing gelungen: Wichtige Debatten werden auf einen kleinen Nebenaspekt reduziert, um über die entscheidenden Punkte nicht reden zu müssen. Und denjenigen, die Rassismus und Sexismus anklagen, wird obendrein unterstellt, intolerante Besserwisser zu sein. Um sich dagegen zu verteidigen, braucht man weitere Zeit und Energie - wertvolle Ressourcen, die woanders fehlen.

Dazu ein Zitat der afroamerikanischen Schriftstellerin Toni Morrison – von einer Vorlesung 1975 in Portland/Oregon, aber so aktuell wie nie:

»Eine sehr folgenreiche Funktion von Rassismus ist die Ablenkung. Sie hält dich davon ab, deine Arbeit zu machen. Du musst wieder und wieder erklären, warum es dich überhaupt gibt. Jemand behauptet, du habest keine eigene Sprache, und du wendest 20 Jahre auf, um das Gegenteil zu beweisen. Irgendwer sagt, dass dein Schädel falsch geformt sei, und du heuerst Wissenschaftler an, um zu zeigen, dass doch alles in Ordnung ist. Jemand behauptet, du habest keine Kunst, also schleppst du sie heran. Irgendeiner meint, bei uns gäbe es keine Königreiche, also gräbst du sie aus. Nichts davon ist notwendig. Es wird immer noch eine weitere Sache geben.«

Genau. Dass Antirassist*innen sich immer wieder rechtfertigen müssen, ist eine politisch motivierte Dauerbeschäftigung, die ihre Kräfte bindet. Ebenso die permanente Ablenkung von wichtigen Themen. Wir sollten nicht über bescheuerte Videos abgehalfterter Tatort-Kommissare diskutieren, sondern über rechtsextreme Netzwerke bei der Bundeswehr. Und wenn diese allesamt ausgehoben sind, dann - aber auch nur dann! - können die Medien von mir aus gerne darüber schreiben, dass Jan Josef Liefers sich bei der Pandemie zuhause langweilt.

Manchmal gehen wichtige Themen auch unter, weil eine eurozentrische Berichterstattung den Blick verstellt auf Wendepunkte, die die ganze Menschheit betreffen. Zum Beispiel diese großartige Nachricht, die leider in der Rubrik »Vermischtes« verbraten wurde:

Es ist gerade eine Impfung gegen Malaria entwickelt worden, die erste, welche die Anforderung der Weltgesundheitsorganisation bezüglich Wirksamkeit erfüllt. Jährlich sterben rund 400.000 Menschen an Malaria – in Afrika und Asien, deswegen haben Deutsche das vielleicht nicht so auf dem Schirm. Konkret: Alle zwei Minuten stirbt in Afrika ein Kind an dieser Krankheit. Im Jahr 2019 erkrankten 229 Millionen Menschen daran.

Nun gibt es endlich einen wirksamen Impfstoff gegen Malaria. Dies sollte auf allen Titelseiten stehen, Aufmacher der Abendnachrichten sein, mit Millionen Tweets verbreitet werden, aber es geht völlig unter. Weil wir mit einem Haufen Schauspieler*innen mit Egoproblemen beschäftigt sind.

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