Potsdam ist kein Einzelfall

Wir müssen anfangen, über strukturelle Probleme in Behinderteneinrichtungen nachzudenken

  • Raúl Krauthausen
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Mensch hat in Potsdam fünf Menschen angegriffen und vier davon in ihrem Zuhause, einer Behinderteneinrichtung, getötet. Die Opfer lebten schon seit vielen Jahren in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung. Statt über die Opfer zu sprechen, lag das Augenmerk des Oberbürgermeisters der Stadt Potsdam, Mike Schubert, in seinem Statement auf der »aufopferungsvollen Pflege« in der Einrichtung. Die Leiterin betonte, dass die Mitarbeiter*innen »außerordentlich engagiert« seien.

Menschen mit Behinderung kommen nicht zu Wort

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Wenn es um die Arbeit mit Menschen mit Behinderung geht, benutzen Menschen ohne Behinderung rasch paternalistische Superlative - als wäre es eine Art »Mission Impossible« und keine Dienstleistung. Es wird fast nur über sie gesprochen, nicht mit ihnen. Die Diskussion darüber, wie wenig Personal in den Einrichtungen arbeitet und wie schlecht die Bezahlung ist, ist vorhersehbar. Beides stimmt und ist beklagenswert, aber nicht zu diesem Zeitpunkt. Als Erklärung für diese Mehrfachtötung wird niemand diese schlechten Rahmenbedingungen angeben wollen, aber: Warum wird im Zusammenhang von Gewalttaten in Pflege- und Wohnheimen immer dieser Punkt erwähnt?

Nach jeder Tat wird versucht, ein Motiv zu finden, und auch in diesem Fall werden in den nächsten Tagen sicher Vermutungen angestellt, sofern sich die Täterin nicht äußert. Im Gegensatz zu anderen Fällen wird bei solchen Taten oft die »Überlastung« des Personals ins Spiel gebracht. So vermutet ein Polizeipsychologe in der rbb-Sendung »Zibb«, dass das Tatmotiv auch »Erlösung von Leiden« gewesen sein könnte. Damit entsteht eine Täter-Opfer-Umkehr: Weil die Bewohner*innen des Heimes zu anstrengend seien, komme es zur Überlastung und damit zu der Tat.

Immer wieder gibt es in Pflege- und Wohnheimen für Menschen mit Behinderung Fälle von Gewalt, Missbrauch, Diskriminierung und Beleidigung. Dabei geht es nicht um Einzelfälle, es geht um eine diskriminierende Struktur, die in diesem Fall sogar viermal tödlich war. Kommen solche Fälle ans Tageslicht, ist dann stets von »Einzelfällen« die Rede. Diese aber fügen sich zusammen zu einer Struktur. Denn diese Heime sind »totale Institutionen«. In ihnen werden aus Sicht der Öffentlichkeit behinderte Menschen leicht und effektiv versorgt, aber diese Systeme sind anfälliger für Gewalt. Menschen mit Behinderung bekommen oft von Geburt an kaum eine Option, aus diesem System herauszukommen: vom Internat zur Förderschule, dann Wechsel in ein anderes Wohnheim und von dort zur Werkstatt; später geht es ins Altenheim, nicht selten finden sich all diese Adressen auf einem einzigen Gelände wieder, wie auch beim Oberlinhaus in Potsdam.

Es handelt sich also um Sonderwelten, um Parallelgesellschaften. Sie trennen. Sie schaffen angesichts mangelnder Selbstbestimmung und fast totaler Abhängigkeit ein Klima, in dem Gewalt leichter entstehen kann als anderswo. Ob diese »Einrichtungen« immer das Richtige für Menschen sind, die dort nur landen, weil sie mit einer Behinderung leben, dahinter muss ein riesiges Fragezeichen gesetzt werden. Nur um eine Zahl zu nennen: Laut einer Studie der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2012 wurden mindestens sechs Prozent aller behinderten Frauen, die in Heimen und Werkstätten »untergebracht« wurden, sexuell missbraucht. Und erst im Januar dieses Jahres wurde bekannt, dass gegen 145 Beschäftigte einer Behinderteneinrichtung in Bad Oeynhausen wegen Verdachts auf Freiheitsberaubung und in einigen Fällen auf Körperverletzung ermittelt wird. 145 ist eine Zahl, die mit der Beschreibung »Einzelfall« nicht mehr zu erklären ist.

Was das alles mit dem Ereignis von Potsdam zu tun hat? Solche Einrichtungen bergen strukturell gesehen ein Potenzial für Ungutes. Daher müssen wir uns mehr Gedanken darüber machen, wie es für Menschen mit Behinderung andere Perspektiven geben kann. Wie Ableismus, also die die systematischen Diskriminierungserfahrungen behinderter Menschen, besser bekämpft werden kann. Und wie wir es schaffen, in Tagen wie diesen den Fokus auf die Opfer zu richten.

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