Harzhexen allein zu Haus

Thale: Inmitten wilder, schöner Berglandschaften lockt die Harzstadt an der Bode mit sagenhaften Attraktionen. Bis alle wieder öffnen, wird wohl noch etwas Zeit vergehen. Die Natur lässt sich auch so genießen. Und wer Glück hat, begegnet sogar einer echten Hexe

  • Carsten Heinke, Thale
  • Lesedauer: 8 Min.

Ein milder Frühlingswind weht durch den Harz. Auch rund um das Städtchen Thale überzieht ein sanfter grüner Schleier die raue Bergwelt im Norden Mitteldeutschlands. Weil der Tourismus wohl auch weiterhin noch warten muss und bis auf die Einheimischen kaum Menschen anzutreffen sind, herrscht selbst an den sonst gut besuchten Plätzen ungewohnte Stille. Zumindest die Natur kann sich darüber freuen. Die Vögel jedenfalls machen keinen Hehl daraus.

Die Hexe Naria hat eigentlich schon Feierabend. Ihren Reisigbesen startklar in der Hand, steht sie am Eingang zur Walpurgishalle, die derzeit noch geschlossen ist. Das mit nordischen Tier- und Götterdarstellungen verzierte Blockhaus unweit vom Bergtheater erinnert an die Kulissen eines Wikingerfilms. Fantasy anno 1901. »Gerade wollte ich den Abflug machen«, sagt die Gästeführerin und lässt sich dann aber doch zu einem Foto überreden. Sie freut sich über das Interesse an diesem Teil des Hexentanzplatzes. Denn dessen nordöstliches Ende werde von vielen Besuchern oft gar nicht beachtet. »Das ist schade, denn gerade hier trug sich zu, was historisch wichtig war«, meint die junge Frau und verweist auf einen langgestreckten Haufen Steine, der sich wie ein aufgeschütteter Weg durch den lichten Laubwald zieht. Es ist der Sachsenwall.

Etwa 150 Meter lang und bis zu vier Meter breit sind die bemoosten, von Wald umwachsenen Überreste dieser einst mächtigen Granitmauer zwischen Steinbachtal und Bodetal. »Sie gehörte zur altgermanischen Homburg, die im ersten Jahrtausend vor unserer Zeit errichtet wurde«, erzählt Naria.

Diese Befestigungsanlage, auch Fliehburg genannt, diente bei drohenden Angriffen als Rückzugsort - ähnlich wie die Winzenburg auf der Rosstrappe gegenüber. 1901 baute der Heimat-, Wander- und Naturschutzbund Harzclub auf dem Gelände der ehemaligen Burg die sogenannte Homburgwarte als Aussichtsturm. Im Zweiten Weltkrieg zerstört, verfiel sie in der DDR. 1993 rekonstruiert, ist sie seither wieder offen.

Goethe als Tourismusförderer

Der Opferstein mit Runenzeichen, den man vor über 100 Jahren im Boden unter der Ruine fand, ist heute in der Walpurgishalle zu besichtigen. Anlass für deren Bau waren jedoch die großformatigen geheimnisvollen Bilder des Malers Hermann Hendrich (1854-1931).

Sie zeigen gruselig-schöne Berglandschaften mit düsteren Wäldern, Feuerhöhlen, sturmgepeitschten Bächen, Licht- und Schattenwesen - Motive der Walpurgisnacht aus Goethes »Faust«, der dem Harz und dessen reichem Sagenschatz damit ein Denkmal setzte. Für den Tourismus war das Dichterwerk ein Segen, lockte es doch bis zum Lockdown unzählige Besucher an den »Originalschauplatz« des teuflisch-sagenhaften Spektakels.

Wie auch andere Ausgrabungen belegen, war das 454 Meter hohe Felsplateau über dem Bodetal über Jahrtausende eine religiöse Stätte. Mit Opfern für die Fruchtbarkeit verehrte man die Göttinnen der Wälder und der Berge. Als die Franken unter Karl dem Großen die hier lebenden Altsachsen unterwarfen und zum Christentum bekehrten, verbannten sie den früheren Glauben und sein Brauchtum ungewollt in die Illegalität. »Denn die Menschen kamen weiterhin und beteten die alten Überwesen heimlich an«, erklärt Naria.

Glaubt man den Erzählungen, war es genau dieses Verbot, das den Ort zum Hexentanzplatz werden ließ. Den Anstoß dazu sollen fränkische Soldaten geliefert haben. In der Nacht zum 1. Mai, dem Höhepunkt des Kults, bewachten sie den Berg, um heidnische Rituale zu verhindern. Die Harzbewohner reizte das, sich als Hexen oder teuflische Gestalten zu verkleiden und die Fremden zu erschrecken und zu foppen - was offenbar gelang.

Wie auch immer sich der Brauch entwickelte: Er ist - wie etwa Weihnachten und Ostern auch - ein Mix aus Religion, Folklore, Zeitgeist, Zufall, Kreativität. Mit dem Namen der christlichen Heiligen Walburga, deren Gedenktag im Mittelalter am 1. Mai gefeiert wurde, verband sich das Ereignis auf den Harzer Gipfeln erst viel später. Zum Volksfest wurde es im Laufe des 20. Jahrhunderts.

»Leider war der große Party-Spuk aufgrund der Pandemie auch in diesem Jahr nicht möglich, sodass die echten Hexen noch eine weitere Walpurgisnacht alleine feiern mussten«, bedauert Maik Zedschack, Thales frischgebackener Bürgermeister. Wie jeder Fan des Festes hofft er, dass 2022 in der Nacht zum 1. Mai wieder alle zu Tausenden auf dem Tanzplatz feiern können. Dass dort einst anmutige Berg- und Waldgöttinnen verehrt wurden, geriet beim neuen Kult um Zauberfrauen ganz in Vergessenheit.

Downhill ins Bodetal

Wie unterschiedlich Angehörige dieser Berufsgruppe - gleich, welchen Geschlechts - aussehen können, zeigen vielfältige Figuren auf dem Bergmassiv. Publikumslieblinge unter ihnen sind zweifelsohne die drei bronzenen Bewohner des Hexenrings aus Findlingen, ein Werk des Quedlinburger Künstlers Jochen Müller. Während auf dem größten Stein der pferdefüßige Gehörnte hockt und neben ihm das Kunstgeschöpf Homunkulus, müht sich die Hexe Watelinde, den letzten Riesenkiesel in den Teufelskreis zu schieben.

Das Domizil der Obermagierin steht gleich vis-à-vis. Und zwar - durch einen Zauberfehler - auf dem Kopf. Man betritt es in der Dachetage und läuft auf der Decke. Denn verkehrt herum ist auch im Inneren des Hauses jeder Raum, inklusive Inventar. Nebenan im Hexenwald steht man wieder auf dem Boden und sieht Fabelwesen aller Art. Das coolste davon kann, dank Windantrieb und Drahtaufhängung, baumeln, wackeln, knarren.

Um unverhexte Bergnatur geht es im Tierpark, der in einem Wald mit bis zu 200 Jahre alten Buchen liegt. Rund 60 mit der Harzfauna verbundene Arten sind zu sehen, darunter Wölfe, Luchse, Bären, Mufflons. Sehr beliebt nicht nur bei Kindern ist Familie Waschbär.

Die leider vielerorts bereits zur Plage gewordenen Einwanderer aus Nordamerika zeigen sich hier von ihrer nettesten Seite. Ebenso wie etwa beim Beobachten der Otter oder Marder überträgt sich die Bewegungsfreude der possierlichen Pelzträger schnell auf die Kinder. Selbst aktiv werden können die Jüngsten dann am großen Abenteuerspielplatz gleich neben dem Tierparkrestaurant, wo sich auch ein Streichelgehege befindet und die kostenlos nutzbare Hexen-Minigolfanlage.

Lesen Sie auch: Per Rollstuhl die Natur entdecken - eine Studentin sucht nach barrierearmen Wegen durch den Nationalpark Harz

Etwas aufregenderen Spaß für Jung und Alt bietet die Sommerrodelbahn Harzbob, die spätestens im Sommer hoffentlich wieder in Betrieb sein wird. Mit bis zu 40 Sachen sausen ihre Schlitten talwärts durch den Wald und wieder hoch hinauf. Die drei bis vier Minuten und rund 1000 Meter lange Fahrt auf Schienen bietet Einzel- oder Tandemfahrern unterschiedlich steile Kurven, sanfte Hopser und rasante Landschaftsbilder.

Bevor sie per Kabinenbahn zurück ins Bodetal nach Thale gondeln, genehmigen sich viele Hexentanzplatzgäste einen schönen Abschiedsblick. Den genießt der neue Bürgermeister - wenn die Waffelbäckerei geöffnet hat - gern mit einem süßen Snack. »Der tollste Picknickplatz dafür liegt nur 100 Meter weiter, auf einer Felsennase hinterm Seilbahnhof«, verrät der 44-Jährige.

»Von dort bietet sich eine grandiose Aussicht auf die gegenüberliegende Rosstrappe, auf Thale und das Bodetal sowie die nordöstliche Felsenklippe des Hexentanzplatzes - und das Ganze unter schwebenden Seilbahngondeln«, so Maik Zedschack, der viele Jahre bei den Seilbahnen Thale gearbeitet hat.

Deshalb weiß er auch: »Die grünen mit durchsichtigem Glasboden garantieren das komplette Panorama. Die roten mit Metallgrund sind für nicht ganz schwindelfreie Gäste besser.« Platz ist jeweils für bis zu sechs Personen. Die 1970 eröffnete und 2012 komplett erneuerte Kabinenbahn überwindet auf einer Länge von 720 Metern einen Höhenunterschied von 244 Metern.

Mit einem leichten Schwung geht’s los, und ehe man die ganze Schönheit ringsum richtig wahrgenommen hat, ist man schon wieder unten. Wenige Schritte weiter startet der Sessellift hinauf zur Rosstrappe. Dass etliche Passagiere dabei ihr Mountainbike mitnehmen, sollte nicht verwundern. Denn seit der Erweiterung des Rosstrappendownhills zum Bikepark Bodetal vor zwei Jahren gilt das Felsmassiv mit dem sagenumwobenen Hufabdruck als Pilgerziel der Bergradsportler.

Derzeit wird bereits der vierte Streckenabschnitt ausgebaut. Eröffnet werden soll der dann 8,3 Kilometer lange Gesamt-Parcours im Sommer, wenn voraussichtlich auch alle anderen Einrichtungen des Thalenser Seilbahnbetriebs nach dem Lockdown wieder in Betrieb gehen. Einen verbindlichen Termin zur Wiedereröffnung gibt es bislang nicht. Das gilt gleichfalls für die Bodetal Therme.

Wer die als Ziel für seinen Thale-Ausflug nicht von vornherein im Auge hat, hebt sie sich als Sahnehäubchen für den Abschluss auf. Denn ganz gleich, ob nach wildem Fahrrad-Cross, entspannter Wanderung oder turbulentem Familientag, kann man hier bei jeder Außentemperatur im warmen Sprudelwasser schwelgen und auf die grünen Hänge des Hexentanzplatzes schauen. Vermutlich kann sich so die Zauberkraft des Harzes am wirksamsten entfalten.

Tipps für den Harz

Anreise: Von Berlin sind es bis Thale 225 Kilometer bzw. 2,5 Stunden mit dem Auto. Mit dem Zug über Magdeburg und Halberstadt braucht man um die vier Stunden.

Tierpark Hexentanzplatz: Samstags und sonntags von 10 bis 16 Uhr geöffnet; Eintritt nur mit negativem Corona-Schnelltest (nicht älter als 24 Stunden), Hygienevorschriften und aufgrund einer Straßenbaustelle die Umleitungshinweise über Friedrichsbrunn beachten; Eintritt: 7 Euro (Kinder: 5, ermäßigt: 6 Euro). www.bodetal.de

Seilbahnen Thale (voraussichtlich wieder in Betrieb ab Sommer): Kabinenbahn zum Hexentanzplatz, Sessellift zur Rosstrappe (kostenlose Fahrradmitnahme möglich). Sommerrodelbahn Harzbob (vorauss. ab Sommer): Kinder dürfen ab 3 Jahren in Begleitung (mind. 12 Jahre), ab 8 Jahren alleine rodeln. Bis 31. Okt. 9.30-18, 1. bis 3. Nov. und 25. Dez. bis 6. Jan. 10-16.30 Uhr (4. Nov. bis 24. Dez. geschl.); Kombiticket für Kabinenbahn, Sessellift und Harzbob: 13,50 Euro (Kinder 4 bis 14 Jahre: 8,50 Euro). www.seilbahnen-thale.de

Harzer Bergtheater (vorauss. ab Sommer): Das Open-Air-Naturtheater auf dem Hexentanzplatz über dem Bodetal zeigt Opern, Operetten, Musicals, Schauspiel und Konzerte. Familienvorstellungen ab 16 Euro (ermäßigt: 10,50 Euro).

www.bodetal.de/bodetalurlaub/ veranstaltungen/harzerbergtheater

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.