Ein Raum, Bad, smarter Kühlschrank

Wie wollen wir leben? Florian Rötzer stellt mit »Sein und Wohnen« die richtige Frage, doch es graut ihm vor der digital vernetzten Behausung. Dabei war es früher auch nicht besser, wie die Philosophie des Wohnens zeigt

  • Lea Fink
  • Lesedauer: 9 Min.

Angesichts des durch die Pandemie veränderten Stellenwerts der Wohnung erscheint Florian Rötzers Buch »Sein und Wohnen« zur rechten Zeit. In seiner Studie begibt sich der einstige Chefredakteur des Online-Magazins »Telepolis« auf, so der Untertitel, »philosophische Streifzüge zur Geschichte und Bedeutung des Wohnens«. Dringlich wird ihm dieses philosophisch vermeintlich vernachlässigte »Nebenthema« durch die Quarantäne, welche die Ambivalenz der Wohnung offenlege, einerseits intimer, privater »Schutz vor Gefahren« und andererseits »Gefängnis und ein Raum der Vereinsamung« zu sein.

Alles hat ein Innen und ein Außen

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

»Sein und Wohnen« beginnt mit der Anthropologie und Biologie des Wohnens. Dass Menschen nun einmal wohnen, reizt Rötzer überhistorisch aus. Er schreibt allem Leben eine Hülle zu: Nicht nur Tiere, auch Einzeller, Bakterien - alle Lebewesen - teilen »innen und außen durch das Gehäuse« auf und erfüllten damit Rötzers Minimaldefinition des Wohnens. Anschließend umreißt er die Philosophiegeschichte des Wohnens von der griechischen Antike bis zu Martin Heidegger, um diese mit dem Perspektivenwechsel zu konfrontieren, den die Erde sowie das Leben und Wohnen auf diesem Planeten durch die Raumfahrt erfahren hätten. In einem kurzen Exkurs zum Verhältnis von »Recht auf Wohnen« und Wohnungslosigkeit unterstellt Rötzer Friedrich Engels, dass dieser die Misere der proletarischen Behausungen zwar kritisiere, den Arbeiter*innen aber keine »sichere Wohnung« gewünscht, sondern die prekäre Wohnsituation der nomadischen proletarischen Klasse als Voraussetzung der Revolution gepriesen habe.

Nach einem kurzen Ausflug ins Paradies als erster Wohnung und zu Fragen der Hospitalität, also der Gastfreundschaft, kommt Rötzer zu den Veränderungen des Wohnens durch Bekämpfung von Seuchen. Hier entwirft er eine Dialektik von Epidemie und Hygiene, von Aufklärung und Aberglauben bezüglich der Wohnung und von Reinlichkeit der »Anti-Wohnung« und Gemütlichkeit. Nach diesem historisch fundierteren Überblick kehrt er zu aktuellen Wohnproblematik zurück: Wohnungslosigkeit, prekäre Wohnsituationen von geflüchteten Menschen, Abriss alter Gebäude zugunsten von Neubau und Smart Homes interpretiert Rötzer als »sozialen Prozess des Entwohnens«. Wie sich nach dem Nationalsozialismus wohnen lasse, fragt Rötzer - mit Verweis auf die Philosophie des »Bodenlosen« und »Unbehausten«, die der Medienphilosoph und Kommunikationswissenschaftler Vilém Flusser mitbegründete. Rötzer aktualisiert Flussers Überlegungen »zur Veränderung des Wohnens durch die Technik« hinsichtlich des digitalen Zeitalters. Als Gewährsmänner seiner Wohnphilosophie dienen Rötzer der zum »Sympathisant der Nationalsozialisten« verharmloste »sesshafte« Heidegger und der vertriebene, als Jude eingeführte Flusser. Ein stereotyper Gegensatz, auch wenn Rötzer für den »Vertriebenen im Exil« und dessen »spielerische Denkzelte zum vorübergehenden Aufenthalt« mehr Sympathie durchscheinen lässt als für den Schwarzwaldprovinzler. Flussers Philosophie dient Rötzer als Möglichkeit, über das Wohnen jenseits eines völkisch-mystifizierten Heimatbegriffs nachzudenken.

Die fremde Wohnung

Rötzer rekurriert auf seinem »Streifzug« durch die Geschichte des Wohnens auf verschiedene historische Ereignisse - vom Sesshaftwerden bis zum Zweiten Weltkrieg -, doch seine Gegenüberstellung der heutigen Wohnung zur vormaligen Wohnstätte ist vereinfachend: So entwirft er ein unhistorisches, geschöntes Bild der bürgerlichen Stadt und Wohnung und vergisst, dass diese schon un-heimlich, entfremdet war und die Trennung von Öffentlichem und Privatem nie derart realisiert war, tatsächlich Schutz zu bieten. Diese kulturpessimistische Verkitschung, die die Voraussetzungen des kapitalistischen Wohnens, wie sie seit mindestens 250 Jahren bestehen, als Folgen der Digitalisierung des 21. Jahrhunderts darstellt, lässt sich mit Verweis auf zwei Autoren - nämlich Walter Benjamin und Alexander Mitscherlich - kritisieren, die das Wohnen nicht als nebensächlich behandelt haben und doch in Rötzers Buch so gut wie keine Rolle spielen, obwohl es auf dem Buchdeckel als »erster umfassender Versuch einer Philosophie des Wohnens« angepriesen wird.

Der Philosoph Benjamin, den Rötzer kurz unter dem Stichwort der hygienischen, transparent werdenden »Wohnmaschine« zitiert, beschrieb in seinem Werk »Einbahnstraße« die bürgerliche Wohnung, nicht erst die digitalisierte, als unheimlichen Tatort: Sie sei »Lageplan der tödlichen Fallen« und die Zimmerflucht schreibe »dem Opfer die Fluchtbahn vor«; die kriminalistisch beschriebene bürgerliche Wohnung diene »adäquat allein der Leiche zur Behausung«. Was für Rötzer die neue Un-heimlichkeit des Wohnens ausmacht, beschrieb Benjamin schon 1928 rückblickend auf das 19. Jahrhundert als »bürgerliches Pandämonium« der Wohnung, die »nach dem namenlosen Mörder zittert, wie eine geile Greisin nach dem Galan«. Auch in seinem unvollendeten Spätwerk - dem »Passagen-Werk«, an dem Benjamin von 1927 bis zu seinem Tod 1940 arbeitete - entwarf er das dialektische Bild der Passage, die sowohl Straße wie Wohnung sei und den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts in sich abbilde. Das Ineinander von Wohnen, Warentausch und Zirkulation wäre, folgt man Benjamin, Merkmal des globalwerdenden Kapitalismus und nicht erst die Digitalisierung.

Der Psychoanalytiker Mitscherlich kritisierte in seinem Pamphlet »Die Unwirtlichkeit unserer Städte: Anstiftung zum Unfrieden« von 1965, dass Wohnen noch unter dem Vorzeichen der »Eigentumsdiktatur auf dem Wohnungsmarkt« stehe: »tiefstes Vorgestern, in seinen kapitalistischen Wonneträumen ungestörtes 19. Jahrhundert«. So schlage die postnazistische Stadtökonomie auf die Triebstruktur ihrer Bewohner*innen zurück, die weder zu Dingen noch zu ihrer Umwelt gelingende Objektbeziehungen aufbauen könnten. Diese »pathologische Form« des Wohnens, die sich sowohl im Nicht-zu-Hause-sein-Können der »Budenangst« wie auch im spießigen »Wohn-Fetischismus« ausdrücke, bettete Mitscherlich in eine psychoanalytische, gesellschaftskritische Reflexion auf die dissoziierte, provinzialisierte und funktionell entmischte Stadt(architektur), gegen die er zu sozialem Unfrieden aufrief. Mitscherlichs Kritik der zeitgenössischen Stadt rekurrierte zwar auf die vormalige »gestaltete« und nicht »bloß agglomerierte« Stadt, benutzte diese aber nicht als kulturpessimistische Spitze gegen den Verfall städtischer Kultur: Gegen die Ideologie »Wie schön war es doch einst, und wie wenig schön ist es heute« wandte er ein, dass es »niemals, bei aller städtischen Lebensfreude, besonders anziehend (war), unter vielen Menschen zu leben«, und dass es ihm um die Feststellung gehe, »der gesellschaftliche Gesamtprozess (habe) nicht abzuhandelnde Änderungen unserer Existenzgrundlagen geschaffen«.

Digitalisierung und Nostalgie

Für Rötzer wird die Wohnung heute zum »digitalen Gefängnis«, die Menschen werden in ihren Wohnungen zu »heimatlosen Migranten«, denn durch den Anschluss des »neuen integrierten Wohnraums« ans Internet werde diese zum Subjekt - und der Mensch nun »vollständig in das System eingebaut«. So werde der Hausherr zum »Gast«, sogar zum »Gefangenen, der nicht einmal mehr Türen oder Fenster öffnen kann, um dem Haus zu entfliehen«. Die Auslieferung an die subjektgewordene Wohnung, die zu einem »lernenden und agierenden System« geworden sei, nehme dem Menschen das Heim, das technisch un-heimlich werde, den Menschen erst zum Gast, dann zum »Passanten« in hygienischen, »technischen Niemandsorten« mache und ihn letztlich zum Anhängsel eines »Optimierungssystems« degradiere, »in dem sich Herrschafts- und Knechtschafts-, Master- und Serververhältnisse in Schaltkreisen auflösen«.

Die Grundhaltung von Rötzers Buch ist nostalgisch, obwohl er an mehreren Stellen beteuert, dass es ihm nicht darum ginge, frühere Wohnformen zu verklären. Der nostalgische Unterton des Buchs drückt sich aber vor allem darin aus, erst der heutigen digital vernetzten Wohnform einen Zugang zur globalisierten Welt zuzuschreiben, der den Schutz des Privaten vor der Öffentlichkeit und somit die Unverletzlichkeit der Wohnung zerstöre. Die historische Perspektive, die einerseits der Verklärung des vormaligen Wohnens entgegenwirken und andererseits die Besorgnis angesichts der scheinbar neuen Zurichtung des Wohnens relativieren könnte, lässt der Autor außen vor: Nur die äußert Privilegierten haben tatsächlich einen solchen Schutz des Eigenheims genossen und diesen freiwillig durch bürgerliche Salons und Interieurs abgelegt, indem sie sich im 18. Jahrhundert die Reiseliteraten einluden und im 19. Jahrhundert im Interieur Gegenstände, Nippes aus aller Welt in die Präsentiervitrine stellten, um dort in der Sammlung die ganze Welt stillzustellen.

Der Digitalisierung wird die transzendentale Obdachlosigkeit zum Vorwurf gemacht, die dann als Erfahrung des 21. Jahrhunderts ausgegeben wird. Die Tatsache, dass die Wohnung ihren Bewohner*innen äußerst selten Schutz bot, versteht Rötzer als Ausnahme und nicht als Status quo: Er bespricht sie nur im Hinblick auf Naturkatastrophen wie Vulkanausbrüche, auf unvorhersehbare Klimarisiken und auf den Luftkrieg.

Herr im eigenen Haus?

Die betrauerte Degradierung des Hausherrn lässt sich sowohl historisch, klassentheoretisch, psychoanalytisch wie feministisch angreifen: Wer war denn je Herr im eigenen Haus? Mit Hegel und Marx ließe sich antworten: Niemand, denn die Herren wussten sehr wohl darum, dass ihr Haus auf der Arbeit anderer errichtet ist, mit ihnen steht und fällt. Mit Freud ließe sich einwenden, dass auch das bürgerliche Individuum nie so identisch mit sich selbst war, dass die eigene Wohnung ihm nicht unheimlich gewesen sei, rührt das Unheimliche doch vom Alltäglichen und Altbekanntem her. Gerade in seiner Analyse des Animismus im Essay über »Das Unheimliche« von 1919 ließen sich Motive stark machen, welche die Sorge vor der scheinbaren Belebtheit der digitalisierten Wohnung als »narzisstische Selbstüberschätzung« fassen könnten.

Mit Virginia Woolfs Essay »Ein Zimmer für sich allein« von 1929 ließe sich zudem einwenden, Rötzers Perspektive gelte nur für den reichen Mann. Denn für die meisten Frauen stand es, obwohl sie sich zumeist im Inneren aufgehalten hätten, bis zum 19. Jahrhundert sowieso außer Frage, auch nur über ein eigenes Zimmer im Hause des Hausherren zu verfügen. Für Woolf ist die Emanzipation eng mit der Wohnungs- wie der sozialen Frage verknüpft: Erst wenn die Frau Geld und ein eigenes Zimmer habe, könne sie Freiheit entwickeln, erst dann könne »die wahre Natur der Frau und die wahre Natur der Fiktion« diskutiert werden.

Rötzers Pathos und seine leicht panische Besorgnis gegenüber der Digitalisierung erscheinen angesichts der hauptsächlich aus Science-Fiction-Literatur stammenden Illustrationen wie Philip Kerrs »Game Over« von 1996 wenig verhältnismäßig, gerade wenn die konkrete Dystopie, die er beschreibt, lediglich darin besteht, dass die Toilette falsche Werte verzeichnen und der Kühlschrank kistenweise Champagner liefern könnte. Dass Bewohner*innen digitalisierter Wohnungen heute Opfer von Hackerangriffen sein können, mag stimmen, aber auch vor der Digitalisierung waren sie der Willkür des Architekten, der Stadtplanerin und der Vermieter ausgesetzt.

Ein bisschen Gelassenheit gegenüber den digitalen Neuerungen ließe sich mit Mitscherlichs Analyse der Unwirtlichkeit unserer Wohnkultur gewinnen, die besagt, dass der Tendenz der Wohnung »zum Kastell, zum Fort zu werden« allein schon durch die Fenster, die auf die Stadt schauen, Einhalt geboten wird. Potenziell ließe sich die WLAN-Verbindung der eigenen Wohnung nicht nur als Einfallstor für Hackerangriffe, sondern auch als virtuelles Fenster ins World Wide Web verstehen, das uns zumindest in gewissem Maß über die Beengung der eigenen Wohnverhältnisse hinausschauen lässt.

Verdienst des Buches bleibt es, eine Debatte über die Frage zur eröffnen, welche Maßstäbe das Wohnen heute bestimmen sollten und welche Gefahren die Neuerungen der Wohnkultur bergen und diese nicht zuletzt mit aktuellen Daten rund um Urbanismus und Digitalisierung zu untermauern. So gibt Florian Rötzer Anstoß, den neuen Stellenwert des Wohnens in der Pandemie zu reflektieren. Dies ließe sich einerseits historisch wie philosophisch einbetten. Mit Adorno ließe sich einwenden, frühere Wohnformen seien nicht zu verklären, stattdessen gehöre es heute zur Moral, »nicht bei sich selbst zu Hause zu sein«, also nicht an Besitzverhältnissen festzuhalten. In der Pandemie ist auch die sozioökonomische Frage aufzuwerfen, wem es überhaupt ermöglicht wird, zu Hause zu bleiben, und dies zur Kritik daran zu erweitern, wie Wohnkultur kapitalistisch organisiert und zugerichtet ist: durch Privatbesitz und Miete, die auch in der Pandemie nicht angetastet werden.

Florian Rötzer: Sein und Wohnen. Philosophische Streifzüge zur Geschichte und Bedeutung des Wohnens. Westend, 288 S., br., 22 €.

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