Alte Polizei-Probleme, neue Lösungen

Eine diverse junge Generation geht gegen Behördengewalt und rassistische Strukturen auf die Straße

  • Darius Ossami
  • Lesedauer: 4 Min.
Mehrere tausend Menschen sind am Samstag in Berlin gegen Polizeigewalt auf die Straße gegangen. Der Jahrestag der Befreiung vom Faschismus sollte auch ein Tag der Anklage rassistischer Vorfälle in den Sicherheitsbehörden sein. Die Demonstration unter dem Motto »Ihr seid keine Sicherheit – gegen Rassismus und Nazis in den Sicherheitsbehörden« wurde von einem breiten Bündnis aus über 70 antirassistischen und antifaschistischen Gruppen und Initiativen sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren organisiert.

Die Demonstration als Auftakt einer gleichnamigen Kampagne startete um 13 Uhr vor dem Berliner Landeskriminalamt und dem Polizeipräsidium am Platz der Luftbrücke in Tempelhof. Dort wurde eine Grußbotschaft der Antifaschistin Esther Bejarano abgespielt: »Es gab nie eine Stunde null«, erklärte die 96-jährige Holocaust-Überlebende. »Alte Nazis bauten die Polizeibehörden, das Militär und viele Behörden in der Bundesrepublik auf. Diese Kontinuitäten und der aggressive Antikommunismus sind auch Ursachen für die heute fast täglich bekanntwerdenden rassistischen und antisemitischen Vorfälle in den Sicherheitsbehörden.«

Nach einer Schweigeminute startete der lebhafte und bunte Zug Richtung Kreuzberger Bergmannkiez. Während die Polizei 5000 Teilnehmende schätzte, gingen die Veranstalter*innen von 8000 Demonstrant*innen aus. »Dies ist nicht die Folgedemo des 1. Mai«, stellte eine Rednerin der Gruppe »Entnazifizierung jetzt« gleich zu Beginn klar: »Von uns wird keine Eskalation ausgehen!« Das hatte die Polizei offensichtlich anders eingeschätzt. Die Behörde hatte insgesamt 1300 Beamt*innen aufgeboten, um den peniblen Auflagenbescheid durchzusetzen, der den Veranstalter*innen erst am Vortag zugestellt worden war. Die Polizei habe ein Interesse daran gehabt, »uns im Nachklapp der 1.-Mai-Demo als Krawalldemo darzustellen«, wie Bündnissprecherin Simin Jawabreh kritisiert. Doch die Demo sei »friedlich und dennoch sehr kämpferisch«. Offenbar sah es die Polizei diesmal als geboten an, keine Eskalation zu provozieren. Der Eingriff der Beamten am 1. Mai hatte einen anderen Eindruck erweckt.

Der lange Zug mit insgesamt vier Lautsprecherwagen war in vier thematische Blöcke unterteilt: Gegen die Gewalt und Kriminalisierung von armen und wohnungslosen Menschen; gegen die Kriminalisierung linker Bewegungen; gegen Rassismus und Antisemitismus in den Sicherheitsbehörden und für deren sofortige Entnazifizierung. Für weite Teile der Gesellschaft sei die Polizei kein Freund und Helfer, erläuterte eine andere Bündnissprecherin: »Sicherheitsbehörden schaffen eben keine Sicherheit. Sie sind dazu eingesetzt, soziale Probleme zu lösen, wie zum Beispiel Armut und Wohnungslosigkeit und schaffen das nicht. Deswegen wollen wir die Frage stellen: Was macht uns eigentlich wirklich sicher, wenn es die Polizei eben nicht schafft?« Das Bündnis fordert soziale Lösungen für soziale Probleme. Die Milliarden Euro für die Polizei sollten besser für Bildung und Gesundheit ausgegeben werden.

Die große Demonstration zog bei bestem Frühlingswetter durch den Bergmannkiez und vorbei am von einer Hundestaffel bewachten Karstadt-Kaufhaus am Hermannplatz. Die zahlreichen Redebeiträge, Schilder und Transparente bildeten ein breites Spektrum linker Gruppen und Forderungen ab. Von einzelnen Hausdächern wurden pyrotechnische Erzeugnisse abgebrannt, ein großes Transparent an einer Hauswand forderte: »Abolish Police!«

Kleine Tafeln nannten die Namen von einigen der insgesamt 181 Menschen, die seit dem Jahr 1990 in deutschem Polizeigewahrsam oder im Gefängnis umgekommen sind. »Who do you call, when the police murders?«, fragte ein selbstgemaltes Schild auf englisch. Frei übersetzt »Wenn ruft man, wenn die Polizei mordet?«; »so viele Einzelfälle« spottete ein anderes über die immer wieder in den Sicherheitsbehörden auftauchenden rassistischen und rechtsextremen Vorfälle.

Erst kürzlich wurde ein weiterer »Einzelfall« im sogenannten Neukölln-Komplex aufgedeckt, der bisher unaufgeklärten rechten Terrorserie: Ein IT-Experte des BKA saß 2017 im Vorstand der Neuköllner AfD, zusammen mit einem Tatverdächtigen in der als »Neukölln-Komplex« bundesweit bekannt gewordenen Anschlagsserie. Darauf wies der Neuköllner Linken-Politiker und Aktivist Ferat Kocak auf der Abschlusskundgebung am Kreuzberger Spreewaldplatz hin.

Die Berliner Demonstration vom Samstag war der Auftakt einer bundesweiten Kampagne, an der sich 14 weitere Städte beteiligt haben. In Köln ist die Website 21gruende.org online gegangen, in der die zahlreichen Probleme mit der Polizei dargelegt werden. »Es passiert bundesweit was«, freut sich die Sprecherin des Bündnisses. Tatsächlich deutet diese große Demonstration auf einen Generationenwechsel in der linken Szene hin: Hier kommt eine neue Generation, jung, migrantisch und divers, die mit eigenen Strukturen und neuen Ideen den Kampf gegen die alten Probleme übernimmt.

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