Gesicht zeigen
Wie Siegfried Wein an die NS-Bücherverbrennung erinnert
»An den Balltüren steht manchmal angeschrieben: Heute Maskenzwang. Ich träume von einer Lustbarkeit, die unter dem Leitspruch vonstatten geht: Heute Gesichterzwang.« Siegfried Wein zitiert nicht von ungefähr den österreichischen Essayisten und Erzähler Anton Kuh, der in den 1920/30er Jahren zu den bekanntesten Wiener Kaffeehausliteraten gehörte und in Berlin so populär war wie Kurt Tucholsky. »Es ist auch heute wieder wichtig, trotz Maske, Gesicht zu zeigen«, ergänzt Siegfried Wein angesichts des Erstarkens von Rechtspopulisten und Rechtsextremisten. Deshalb wird er auch in diesem Jahr der Bücherverbrennung auf dem Berliner Bebelplatz gedenken. Auf dem einstigen Opernplatz Unter den Linden hatten am 10. Mai 1933 etwa 70 000 Studenten, Professoren, SA- und SS-Schergen Werke von als »undeutsch« inkriminierten Autoren in die Flammen geworfen. »Das perfide Propagandaspektakel war strategisch von der Deutschen Studentenschaft der Berliner Universität organisiert worden, an deren Spitze bereits 1931 ein strammer Nazi stand«, weiß Siegfried Wein, der an der Berliner Alma mater studiert hat, die seit 1949 den Namen der Humboldt-Brüder trägt. Für Siegfried Wein unfassbar: Selbst Bibliothekare hatten in den Tagen zuvor Bücher aus ihren Regalen sortiert und zum Sammelplatz am Monbijoupark gekarrt.
Coronabedingt wird das von der Linksfraktion, namentlich Gesine Lötzsch, alljährlich veranstaltete und von dieser Zeitung mitgetragene »Lesen gegen das Vergessen« an diesem Montag nur digital (Livestream ab 18 Uhr) stattfinden. Siegfried Wein aber wird, behördlich genehmigt, ab elf Uhr auf dem Platz stehen, mit Büchern von Bert Brecht, Kurt Tucholsky, Alex Wedding, Erich Kästner und den Gebrüdern Mann, aber auch russischer Autoren wie Ilja Ehrenburg, Maxim Gorki oder Isaak Babel, deren Werke ebenfalls mit martialischen »Feuersprüchen« in die Scheiterhaufen geworfen worden sind. »Für die Berliner war das ein Volksfest, Würstchenverkäufer boten ihre Ware an«, erzählt der studierte Kunsthistoriker, Jahrgang 1937, einst Intendant am Theater der Freundschaft und am Theater im Palast sowie neun Jahre Leiter des Theaters im Palais. Er wird interessierten Passanten aus den Büchern vorlesen und sie über die Autoren aufklären. Und sich über jeden Berliner, jede Berlinerin freuen, der sich ihm zugesellen möchten und vielleicht auch ein Buch von einem »verbrannten«, ins Exil getriebenen oder ermordeten Autoren mitbringen: »Um miteinander zu reden, Meinungen auszutauschen und sich gegenseitig zu ermutigen.« Siegfried Wein wird Blumen am 1995 eingeweihten Denkmal des israelischen Künstlers Micha Ullman ablegen, das ein Zitat von Heinrich Heine ziert: »Das war ein Vorspiel nur, dort/ wo man Bücher verbrennt,/ verbrennt man am Ende auch Menschen.«
Ostberliner Schriftsteller hatten schon zu DDR-Zeiten ein Erinnerungsmal auf dem Bebelplatz gefordert. Siegfried Wein kann sich nicht erklären, warum ein solches erst 1983 realisiert wurde, war doch Antifaschismus Staatsdoktrin. Jedenfalls ist er eines Tages vom SED-Bezirkschef Konrad Naumann beauftragt worden, quasi über Nacht einen Text für eine Gedenktafel zu entwerfen: »Ich rief meinen Freund Peter Edel an, bat ihn um Ideen.« Der Schriftsteller und Ausschwitz-Überlebende half gern, auch wenn er sich über die nun plötzliche Eile wunderte. Edel starb fünf Tage vor der Einweihung der Tafel, die sich heute an der Kommode, dem Gebäude der Juristischen Fakultät befindet.
Anton Kuh, über den Tucholsky anerkennend ob dessen Esprit, Witz, Schlagfertigkeit meinte, er sei kein Schriftsteller, sondern ein Sprechsteller, starb 1941 verarmt und vereinsamt im New Yorker Exil.
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