- Wirtschaft und Umwelt
- Digitalisierung des Fliegens
Industrie 4.0 in der Luftfahrt
Digitalisierung soll das Fliegen sicherer, pünktlicher und sauberer machen. Jetzt muss die Branche noch die Datenhoheit klären
Die Luftfahrt hat sich vom Überflieger zum Sorgenkind entwickelt. Die Branche macht gerade ihre größte Krise seit der Nachkriegszeit durch: Erst Abstürze des Problemfliegers Boeing 737MAX plus Flugverbot, dann neue »Flugscham«, schleppender Verkauf von neuen Jets und nun die Covid-19-Pandemie. Trotzdem oder gerade deswegen wird im Hintergrund fieberhaft an der Digitalisierung rund um den Flugverkehr gearbeitet.
Zum Beispiel am Flughafen Zürich: Vordergründig geht es hier gemächlich zu. Denn auch bei der Nummer 15 unter den europäischen Airports sind die Passagierzahlen während der Covid-19-Pandemie eingebrochen. Nur zwei Bushaltestellen von den Terminals entfernt arbeitet in einem schlichten Zweckbau der Fluggesellschaft Swiss Marcus Di Laurenzio. Der Mittfünfziger sitzt vor einem riesigen Computerbildschirm. Zu sehen sind Dutzende kleine bunte Dreiecke, bei denen es sich um Maschinen der Airline handelt. Ruckweise und scheinbar ziellos bewegen sie sich in alle Himmelsrichtungen über eine Europakarte. Der IT-Ingenieur in der schwarzen Fleecejacke mit rotem Swiss-Logo leitet bei der Airline das digitale Vorzeigeprojekt »Aviatar«. Diesen digitalen Zwilling (Avatar) der Flugzeuge - deswegen »Aviatar« - haben die Schweizer gemeinsam mit dem Mutterkonzern Lufthansa entwickelt. Es ist ein Portal, das die vorausschauende Analyse der Flugverkehrsdaten und Wartung anbietet.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Di Laurenzio lässt mit einem Mausklick auf seinem Bildschirm die technischen Details des »echten« Fliegers erscheinen. Sämtliche Status- und Warnmeldungen für die gesamte fliegende Swiss-Flotte werden sichtbar. Dahinter verbergen sich detaillierte Wartungsberichte, selbst die Betriebstemperaturen der Turbinen werden angezeigt oder die Lebensdauer der Stromgeneratoren. Vor allem aber werden Lösungen vorgeschlagen wie etwa für eine ausgefallene Ölpumpe. Was hier auf den ersten Blick einfach aussieht, wurde jahrelang programmiert, mit Datenmaterial gefüttert und mit künstlicher Intelligenz analysiert. Seit zehn Jahren arbeitet Di Laurenzio mit rund 30 Kollegen für die Swiss an dem Projekt.
»Die Plattform ist eine Abbildung unserer Flotte«, erklärt der Ingenieur. Jedes Flugzeug hat enorm viele Sensoren, moderne Jets um die 25 000. Sie messen unter anderem Bewegungen, Füllstände und Flugaktionen. Die wichtigen Datensätze werden mehrmals pro Sekunde aufgezeichnet - weniger wichtige einmal pro Sekunde.
Während das echte Flugzeug in der Luft ist, wächst in seinem digitalen Zwilling auf dem Server am Boden ein riesiges Datenpaket. Düsenjet und Avatar sind ein sich ergänzendes Paar - im Idealfall von der Produktion bis zur Außerdienststellung des Jets. Dabei werden pro Flug mehr als ein Terabyte Daten mithilfe von Sensoren gesammelt, erklärt Di Laurenzio: »Wir bilden diesen Datensatz im digitalen Zwilling auf dieser Plattform ab und verbinden alles miteinander, um immer möglichst gute Erkenntnisse daraus zu ziehen.«
»Aviatar« besteht neben der sichtbaren Oberfläche aus einem Bündel von Apps. Diese arbeiten mit künstlicher Intelligenz und können mit ihren Analysen die Lebensdauer von Triebwerken und anderen teuren Ersatzteilen verlängern - eine der wichtigsten Aufgaben, sagt Anne Zilles vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln. Ziel ist es, »den optimalen Zeitpunkt für eine Instandhaltungsmaßnahme zu identifizieren. Das heißt, man möchte die Lebensdauer der Komponente optimal ausnutzen, bevor diese ausfällt.«
Keine schlechten Aussichten also für digitale Zwillinge in der europäischen Luftfahrt - auch in Sachen Klimaschutz. Auch wenn die Luftfahrt mit knapp drei Prozent nur einen kleinen Anteil zum weltweiten Ausstoß des Treibhausgases CO2 beiträgt. Im Rahmen des Green Deal der EU-Kommission ist unter anderem eine Reduzierung der Emissionen im Transport von 90 Prozent angestrebt. Nur eine radikale Digitalisierung sei effektiv, erklärt Zilles: »Dieser Weg hin zu einer ökoeffizienten und klimaverträglichen Luftfahrt bedarf radikaler Technologien in allen Bereichen.«
Sprung mit virtuellen Sensoren
Einen großen Sprung will die Branche mithilfe so genannter virtueller Sensoren machen. Diese nehmen alle verfügbaren Daten, etwa aus den realen Druck-, Umdrehungs- oder Feuchtigkeitssensoren im Flugzeug. Daraus wird ein zusätzlicher Wert errechnet. Aus den realen Messdaten der Sensoren für die Umdrehungszahl eines Rades und die Temperatur im Radkasten bei Start und Landung berechnet der virtuelle Sensor dann den Reifendruck. Dadurch lässt sich vorhersagen, wann ein Radwechsel nötig sein wird. Ein virtueller Sensor ist also kein Gerät, das man in die Hand nehmen kann. Es ist eine Methode, mit deren Hilfe man zu Ergebnissen kommt - Ergebnisse, zu denen man mit physischen Sensoren nicht gelangen würde.
Die Spanne der Analysen reicht von einer Routineprüfung der Öl-Füllstände bis zu einer Information, die eine Katastrophe verhindern kann - wenn etwa zu wenig Kerosin für einen Umweg verfügbar ist. Das Wartungsteam am Boden erhält so einen wertvollen Zeitvorsprung. Per Klick sieht der Techniker am Boden, was zu tun ist und kann dann durch Listen durchgehen, um den Fehler nachzuvollziehen. Er muss nicht von einer Applikation in eine andere springen oder gar durch Papierberge blättern, bis er das Richtige gefunden hat. Swiss-Ingenieur Di Laurenzio: »Das ist der Benefit der Plattform, wenn es in kritischen Situationen um Zeit geht, wenn man schnell sein muss.« Niemand könne alle Wartungsdokumente zu Rate ziehen, wenn es hart auf hart kommt. Das muss eine künstliche Intelligenz schnell erledigen. Bislang standen diese Unterlagen meist nur auf Papier zur Verfügung, bei älteren Jets können das schon einmal Tausende von Seiten sein. Neben diesem Zeitvorsprung sieht die Schweizer Fluggesellschaft vor allem einen Vorteil: Die vorausschauende Analyse von Bauteilen und Materialien führe dazu, dass 20 bis 30 Prozent weniger Ersatzteile ausgewechselt werden müssen.
Schneller mit künstlicher Intelligenz
Denn ein digitaler Zwilling legt alles offen - sogar kleine Fehler in der Fertigung. Das erleichtere auch die Zulassung der Jets, meint Roland Gerhards, Chef des Zentrums für Angewandte Luftfahrtforschung in Hamburg. In der Freien und Hansestadt - dem drittgrößten zivilen Luftfahrtstandort der Welt nach Seattle und Toulouse - arbeiten über 40 000 Menschen in der Luftfahrtindustrie. Es können in der Fertigung Fehler passieren, erklärt Gerhards und nennt ein Beispiel: »Ein Bohrer bricht ab und ich brauche ein größeres Loch. Das heißt, ich habe 10 000 Löcher. Davon ist eins größer. Das muss ich wissen!« Und damit man davon auch nach 20 Jahren noch Kenntnis besitzt, könne dies jetzt automatisch dokumentiert werden. Das heißt, wenn ein Niet angezogen wird, dann dokumentiert die Maschine das direkt, »und es muss kein Prüfer mehr hinkommen, sondern die Maschine macht das digital selber«, so Gerhards.
Finden Flugverkehr-Know-how und IT-Wissen so zusammen, könnten jährlich mehrere Millionen Euro pro Maschine eingespart werden. Wahrscheinlich sogar mehr, sagt Diego Oppenheim, Kommunikationschef für die Technik der Swiss. So koste der Ausfall eines Generators, der für die Stromversorgung eines Jets verantwortlich ist, einige Millionen: »Dann steht das Flugzeug am Boden. Das heißt, es generiert kein Geld in dieser Zeit.«
Voraussetzung für die virtuelle Planung und Wartung ist allerdings ein freier Zugriff auf alle Daten. Erst dann könne jedes Ersatzteil auch gewartet werden, bevor es ausfällt. Und weil ein Stromgenerator rund 250 000 Euro kostet, lohne sich die Anwendung von künstlicher Intelligenz, sagt Di Laurenzio. Nur: Wer wird die Datenauswertung wem in Rechnung stellen? Das Geschäftsmodell von »Aviatar« ist es, Lizenzen zu verkaufen. Preise richten sich nach Größe und Anzahl der Flieger. Hier sind die Regeln noch nicht geschrieben: Parallel arbeiten auch Boeing und Airbus an eigenen Datenportalen mit smarten Analysetools. Auch sie wollen digitale Helfer anbieten. Kritisch sehen das besonders die Wartungsunternehmen: Sie werfen den Flugzeugbauern vor, in ihrem Revier zu wildern. Schließlich läge viel technisches Know-how bei den Wartungsprofis.
Was Di Laurenzio und Fluggesellschaften wie die Swiss so alarmiert: die Ankündigung etwa von Airbus, eine eigene Plattform aufzubauen. Der europäische Flugzeughersteller will nicht nur Flugzeuge entwickeln und bauen, mit »Skywise« will der Konzern künftig auch die Datenplattform für seine Flieger betreiben - inklusive der vorbeugenden Wartung und Behebung von Defekten. Das Werkzeug dazu sind die Daten, die die Airlines dafür zur Verfügung stellen. Für Fluggesellschaften wie die Swiss ist das auch ein Angriff auf das Geschäft des Mutterkonzerns, der mit Lufthansa-Technik Weltmarktführer bei der Flugzeugwartung ist. Dieser Servicemarkt ist so umkämpft wie lukrativ und wird auf rund 80 Milliarden Dollar weltweit geschätzt. Di Laurenzio sieht im Airbus-Plan vor allem eine gefährliche Abhängigkeit der Airlines von den Flugzeugherstellern. Denn beim Handel mit den Jets geht es auch um milliardenschwere Versicherungsleistungen, die von den Airlines im Schadensfall bei den Jetbauern eingeklagt werden. Vor einer Monopolstellung auch bei der Aufbereitung und Bereitstellung von Datensätzen warnen nicht nur die Wartungsunternehmen. Airbus wolle sich zum Google der Luftfahrt digitalisieren und alle anderen aus dem Rennen werfen, lautet eine Kritik aus der Branche.
Alle sollen profitieren, das wünscht sich zumindest Roland Gerhards in Hamburg. Er begrüßt den Wettlauf um die Datenhoheit: »Das ist erst einmal nicht schlecht. Und da möge der Bessere gewinnen, oder man hat nachher mehrere Lösungen, die parallel laufen.« Am Ende kann eine komplette Digitalisierung nur funktionieren, wenn man sich austauscht und einen Weg findet, dass der Austausch einen Mehrwert bringt und dass dann ein Businessmodell entsteht. Gerhards vermutet, dass es einen neutralen Plattformbetreiber geben werde, der die Daten sammelt und dafür bezahle, um sie anschließend zu verkaufen. Vertrauen sei dabei wichtig. Das sei ein Trend und die Möglichkeit, um juristische Vorbehalte auszuräumen.
Die Digitalisierung bietet eben nicht nur Chancen, sondern stellt die Industrie vor neuen Herausforderungen. Egal ob in der Luftfahrt oder der Automobilindustrie - es müssen viele Bedingungen geklärt werden. Smarte Technologien allein werden nicht ausreichen, das Fliegen sicherer, pünktlicher und sauberer zu gestalten.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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