Science Wars 2.0

Wissenschaft kennt keine zwei Meinungen? Ein Irrglaube

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 3 Min.

Sie ist in aller Munde, viele berufen sich auf sie, doch nicht jeder ist berufen: die Wissenschaft. Eine heile Welt? »Die Wahrheit ist nicht relativ« und »Wissenschaft ist keine Demokratie« heißt es beispielsweise in der »Zeit«. Die Wissenschaft und das Virus, beide verhandeln nicht. Nicht verhandelbar scheinen aber vor allem die politischen Maßnahmen, die in deren Namen verkündet werden. Nun mag es reizvoll sein, in Situationen großer sozialer Unsicherheit die Wissenschaft als einen nicht von verschiedenen Interessen zerrissenen Ort unverrückbarer Wahrheiten zu idealisieren. Nur hat dieses Ideal mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Und schlimmer noch wird damit ein vorkritisches Wissenschaftsbild restauriert, das nicht zur gesellschaftlichen Aufklärung beiträgt. »Denn ›die Wissenschaft‹ ist - wie viele Verschwörungstheorien ihrerseits - eine Karikatur von realen Wissenschaften«, schreibt Peter Schneider in seiner großartigen Neuerscheinung »Follow the science? Ein Plädoyer gegen wissenschaftsphilosophische Verdummung und für wissenschaftliche Artenvielfalt«.

Sind Fakten und Evidenz der Stoff, aus dem die Hard Sciences bestehen - im Gegensatz zu den als Debattierclub verächtlich gemachten Soft Humanities? Kurz erinnert sei daran, dass auch in den Naturwissenschaften Methoden- und Meinungsvielfalt herrscht, dass sie nicht mit Fakten, sondern mit Annahmen und Modellen arbeiten, die sie versuchen, valide zu machen und zu interpretieren. Und selbst, was in sich stimmig ist, kann schlicht falsch sein - insbesondere Vorhersagen. Es lassen sich gar für widersprechende Hypothesen widerspruchsfreie Modelle entwickeln: Licht als Teilchen und als Welle. Ein Widerspruch, der für die Quantenphysik bedeutend ist und zeigt, dass es wohl auf den Standpunkt der Beobachtung ankommt. Es ist nun eben so, dass die Wege menschlicher Erkenntnis dialektisch verschlungen sind. Und dass »die Wissenschaft« als Kriterium nur in sehr bedingtem Maße dabei hilft, »gut« von »schlecht« zu trennen.

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Nicht nur gehört der Irrtum auch zur Wissenschaft, ihre abstrakten Regeln können ebenso gut die Fassade von Bullshit sein. »Wissenschaften sind Tätigkeiten, keine Reservoirs von wahren Sätzen, die man den Verschwörungstheoretikern, Abergläubischen und Antiwissenschaftlern, aber auch nicht DER Politik entgegenschleudern kann«, schreibt Schneider. Das Problem an der Restaurierung eines monolithischen Wissenschaftsbildes ist zum einen, dass die inneren Widersprüche nach außen verlagert, also abweichende Forschungsmeinungen als unwissenschaftlich geächtet werden. Und zum anderen befördert es die aus der Psychologie bekannte sekundäre Abwehr, denn man lässt sich nicht gerne mit etwas belügen, an dem einem eigentlich liegt - wie Wissenschaft oder Demokratie. Die Behauptung, es könne keine zwei Meinungen geben, führt dann dazu, gar keine mehr gelten zu lassen. Die »wissenschaftsphilosophische Verdummung« führt zu einer Lose-Lose-Situation.

Müssten wir bloß mehr auf »die Wissenschaft« hören und dann wird alles gut? Dass die Intensivbettenkapazität heute unter dem Niveau des Vorjahres liegt, dass im vergangenen Jahr über 20 Kliniken geschlossen wurden und weitere folgen sollen, dass die Gesundheitskonzerne damit Profite einstreichen wie die Unionsparteien mit korrupten Maskendeals, dass dringend anstehende Verbesserungen im Gesundheits- und Pflegebereichs nicht im Ansatz angegangen werden, dass sich öffentlich eher über ein paar Schauspieler erregt wird als über das höchst fragwürdige Handeln von regierenden Politikern sowie Betreibern von Pflege- und Altenheimen - das sind keine wissenschaftlichen, sondern politische Fragen. Die jedoch weitere aufwerfen - nach der Rolle der Demokratie in der Wissenschaft sowie nach der Wissenschaft in der Demokratie. Zu behaupten, beides hätte nichts miteinander zu tun, ist jedenfalls ein Irrglaube.

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