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Es ist die Besatzung, stupid!
Auf Israel prasseln Raketen, auf Gaza fallen Bomben, und die Palästinenser werden vom eigenen Präsidenten um ihre Wahlen betrogen
Die Absage der Parlamentswahlen durch Präsident Mahmud Abbas war keine allzu große Überraschung. Viele in der palästinensischen Gesellschaft hatten damit gerechnet. Trotzdem war es ein Schlag gegen ihre positiven Erwartungen von diesen ersten Wahlen seit 2006.
Die jüngste Entwicklung in Jerusalem und die Konfrontation im Nahen Osten überhaupt haben die Frage der Wahlen in den Hintergrund gerückt oder schlicht obsolet gemacht. Entscheidend war und ist die israelische Besatzung mit ihrer hemmungslosen Anwendung von Gewalt, im Zusammenspiel mit der unaufhaltsam voranschreitenden Kolonisierung von Ost-Jerusalem und weiter Teile der West Bank.
Zwei zentrale Aspekte dominieren die Entwicklung der vergangenen Tage: Im Stadtteil Scheich Dscharrah, nicht weit entfernt von den Toren der Altstadt Jerusalems, versuchen extremistische israelische Siedler palästinensische Familien aus ihren Häusern zu vertreiben. Sie argumentieren, dass das Land, auf dem die Häuser gebaut worden seien, Ende des 19. Jahrhunderts von Juden gekauft worden sei, also jüdisches Eigentum sei. Die palästinensischen Bewohner wurden 1948 aus ihren Dörfern westlich von Jerusalem vertrieben und erhielten das Land in Scheich Dscharrah, auf dem sie bauten, von Jordanien in Kooperation mit der Flüchtlingsorganisation UNRWA. Europäische Diplomaten, unter ihnen auch der deutsche Vertreter in Ramallah, besuchten am Dienstag die von Vertreibung bedrohten palästinensischen Familien in Scheich Dscharrah, drückten ihre Solidarität aus und versprachen politisch-diplomatische Hilfe.
Seit Beginn des Fastenmonates Ramadan eskaliert die israelische Polizei in Ost-Jerusalem die Situation vor und in der Altstadt. Zunächst sperrte man die Treppen vor dem Damaskus-Tor ab, wo sich traditionell vor allem die Jugend an den Abenden des Ramadan versammelt. Erst nach massiven Auseinandersetzungen gab die Polizei nach und baute die Barrikaden am Damaskus-Tor ab. Der nächste Schritt bestand aus extrem gewaltförmigem Eingreifen der israelischen Polizei auf dem Gebiet der Al-Aqsa-Moschee, also im Haram Al-Scharif, und in der Moschee selbst. Einige Hundert palästinensische Gläubige wurden verletzt, in und um die Moschee sah es wie auf einem Schlachtfeld aus. Die Polizei setzte fast ungehemmt und teilweise aus nächster Nähe Gummigeschosse ein. Schließlich waren es die Vorbereitungen zum Marsch extremistischer Siedler durch die muslimischen Viertel der Altstadt von Jerusalem, die die Situation fast zur Explosion brachten. In letzter Minute wurde der Marsch umgeleitet... allerdings zu spät.
Aus Gaza hatten palästinensische Organisationen, angeführt von der Hamas, ein Ultimatum gestellt mit der Forderung nach vollständigem Abzug der israelischen Polizei aus der Al-Aqsa-Moschee. Kaum war das Ultimatum abgelaufen, feuerten sie aus Gaza ihre kleinen Raketen auf ein Gebiet westlich von Jerusalem sowie auf die Siedlungen rund um den Gaza Streifen und auf die Stadt Asqalan (Ashkelon), also die ursprüngliche Heimat der Menschen in Gaza, aus der sie 1948 vertrieben wurden.
Inzwischen dominiert die Gewalt. Israel bombardiert den Gazastreifen massiv mit seiner überlegenen Luftwaffe. Die Zahl der Toten wächst stündlich. Die palästinensischen Organisationen, vor allem Hamas und der Islamische Dschihad, schießen ihre Raketen seit Tagen auf israelisches Gebiet und zwingen die Bevölkerung dort in die Luftschutzkeller. Schließlich kommt es zu immer neuen Gewaltexzessen zwischen palästinensischen und jüdischen Israelis, und es ist vor allem ein extremistischer rechtsradikaler jüdischer Mob, der Palästinenser attackiert in Jaffa, Haifa, Akka und vor allem in Lydda (Lod). Viele befürchten einen regelrechten Bürgerkrieg.
Jetzt ist die Diplomatie gefragt, entschiedenes Eingreifen von außen, gekoppelt mit der Bereitschaft, an die Ursache des Übels zu gehen, also die Besatzung zu beenden, die seit über 50 Jahren die Palästinenser unterdrückt und sie ihrer Freiheit beraubt.
Angesichts der Eskalation spricht niemand mehr von Wahlen. Dabei hatten viele Palästinenser gehofft, endlich mit ihrer Stimme aktiv in eine unerträgliche Situation einzugreifen. An erster Stelle stand die palästinensische Teilung zwischen West Bank und Gaza und der unlösbar erscheinende Konflikt zwischen den beiden größten palästinensischen Parteien Fatah und Hamas. Direkt damit verknüpft war die Absicht vieler Palästinenser, sich klar gegen die autoritäre Herrschaft von Fatah in Ramallah und Hamas in Gaza zu stellen. Schließlich ging es allen um eine neue palästinensische Politik, ein neues politisches Programm gegen die israelische Besatzung, gegen das brutale System des Siedlerkolonialismus. Zentral dafür stand die Situation in Ost-Jerusalem mit der Expansion israelischer Siedlungen mitten hinein in arabische Stadtviertel, wie zuletzt in Scheich Dscharrah.
Alle palästinensischen Parteien hatten von Anfang an darauf bestanden, dass die palästinensischen Bewohner Ost-Jerusalems wählen sollten, wie es in den Verträgen von Oslo garantiert worden war. Ohne die Beteiligung der Ost-Jerusalemer wollte man keine Wahlen.
Eben diese Problematik benutzte der palästinensische Präsident Mahmud Abbas - er wurde im Januar 2005 gewählt, und Präsidentschaftswahlen sind für den Juli dieses Jahres geplant -, um die Wahlen auf unabsehbare Zeit zu verschieben. Allerdings war es wohl weniger die Frage der Freiheit zur Wahl für die Ost-Jerusalemer als vielmehr die Sorge um eine schlimme Wahlschlappe, die ihn motivierte. Schließlich war sowohl in der Gesellschaft als auch in politischen Kreisen diskutiert worden, wie man Wahlen auch ohne israelische »Genehmigung« in Ost-Jerusalem durchführen könnte.
Nichtsdestotrotz führte Abbas in seiner Rede vom 29. April, als er die Wahlen absagte, die israelische Antwort auf den Antrag der Palästinenser, in Ost-Jerusalem Wahlen abzuhalten, als den Grund für seine Entscheidung an. Israel, so Abbas, hätte argumentiert, dass die derzeitige Übergangsregierung nicht in der Lage sei, eine Entscheidung zu treffen. Es gab viel Proteste, vor allem seitens einer Mehrzahl der zu den Wahlen angetretenen Parteien und Listen, die jedoch zu keinem Ergebnis führten.
Das größte Problem für Abbas waren die Konflikte innerhalb der Fatah, die zur Aufstellung von drei Fatah-Listen geführt hatten. Entscheidend war dabei sicher der Entschluss von Marwan Barghuti, der seit 2002 in israelischer Haft ist, bei den Präsidentschaftswahlen anzutreten und Nasser Al-Qudwa, ein Neffe Jassir Arafats, mit seiner Wahlliste für die Parlamentswahlen zu unterstützen. Fadwa Barghuti, die Frau von Marwan, war auf dieser Liste die Nummer zwei. Abbas reagierte prompt und schloss Nasser Al-Qudwa aus der Fatah aus. Nur die massiven Demonstrationen überall im Lande verhinderten einen Ausschluss von Marwan Barghuti. Die zweite Liste, die neben der offiziellen Fatah-Liste antrat, wurde von Anhängern von Mohammad Dahlan organisiert. Auch Dahlan war von Abbas schon vor Jahren aus der Fatah ausgeschlossen worden. Er operiert seitdem aus dem Exil in den Vereinigten Arabischen Emiraten und versucht, mit massiver finanzieller Hilfe Unterstützung für sich zu gewinnen, vor allem in der West Bank und in Ost-Jerusalem; er selbst stammt aus Gaza und hat dort viele Anhänger.
Zum anderen war es die Befürchtung, dass die Hamas, ähnlich wie 2006, die Parlamentswahlen für sich entscheiden könnte, egal, was die Umfragen voraussagten. Interessant scheint der Versuch von Nasser Al-Qudwa, in die palästinensische Politik einzugreifen mit einem Programm, das auf Veränderung setzt. Der Slogan der »Palästinensischen Demokratischen Liste« lautet kurz und einprägsam: »Wir wollen Veränderung, wir wollen Befreiung, wir wollen den Aufbau«. An die Stelle von Abbas soll Marwan Barghuti treten. Symbolisch für den Kampf der Palästinenser gegen Besatzung und Siedlerkolonialismus soll dabei die schlichte Tatsache sein, dass Barghuti in israelischer Haft ist, Palästina also, sollte er die Wahlen gewinnen, von einem Präsidenten im Gefängnis vertreten wird.
Neben den drei Fatah-Listen und der Liste der Hamas sucht man vergeblich nach einer aussichtsreichen Liste der palästinensischen Linken - von der PFLP über die Demokratische Front, Fida, die Volkspartei (ehemals Kommunistische Partei) bis hin zu Mustafa Barghutis »Die Alternative«. Auch Palästina scheint nicht vom historischen Problem der Linken verschont, dass man sich nie einigen kann, weder auf eine gemeinsame Liste noch auf ein gemeinsames Programm noch gar auf eine gemeinsame Führung. Damit hat sich die palästinensische Linke vollends ins Abseits und in die Irrelevanz manövriert.
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