Kein Einzelfall

Die rechte Bedrohung in Thüringen hat mit dem Erstarken der AfD zugenommen. Betroffene berichten

  • Fabian Klaproth und Lisa Kuner, Erfurt
  • Lesedauer: 9 Min.

Freitagabend, 23. April, in Erfurt: Die Aufnahme eines Handyvideos zeigt, wie ein 17-jähriger Syrer in der Straßenbahnlinie 5 von einem Mann attackiert wird. Zuerst beschimpft ihn dieser rassistisch, dann bespuckt er ihn und tritt ihm mehrmals ins Gesicht. Auch das Handy des Jugendlichen wird zerschmettert. Keiner der anderen Fahrgäste greift ein, der Angreifer verlässt die Straßenbahn.

Die Videoaufnahme von dem Übergriff verbreitete sich nach der Tat schnell in den sozialen Netzwerken - und hat eine Welle des Entsetzens ausgelöst. Auch Medina Yilmaz hat das Video gesehen, es hat sie zwar geschockt, aber nicht überrascht. Yilmaz ist 38 Jahre alt, hat einen kurdischen Migrationshintergrund und ist Konferenzdolmetscherin. Seit vielen Jahren ist sie in Erfurt politisch aktiv und hat unter anderem im Thüringer Ministerium für Migration gearbeitet. Außerdem betreibt sie zusammen mit ihrem Mann ein Restaurant. In ihrer Wohnung in Erfurt serviert sie Kaffee mit Kardamom, dazu Medjool-Datteln. Als wir über rechte Gewalttaten sprechen, wirkt sie gefasst; sie redet schnell und bestimmt. Wenige Tage nach dem Übergriff in der Straßenbahn hat der Betroffene zu ihr Kontakt aufgenommen. Sie hat schon häufiger mit Betroffenen rassistischer Gewalt gesprochen und gilt für viele als zuverlässige Vertrauensperson. Deswegen hat sie nach der Tat in ihren Netzwerken verbreiten lassen, dass sich der Betroffene an sie wenden soll. Nach dem Angriff fühlt sich der junge Mann in Erfurt nicht mehr sicher. »Ich habe immer wieder aus ihm rausgehört, er will hier wegziehen, um sich in Sicherheit zu bringen«, erzählt Medina Yilmaz.

Vorfälle wie dieser sind in Erfurt und in ganz Thüringen keine Einzelfälle. Ein Monitoring der Beratungsstelle ezra, die Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen berät, hat im vergangenen Jahr 102 rechts motivierte Übergriffe im Bundesland gezählt, 29 davon in Erfurt; insgesamt wurden mindestens 155 Menschen Opfer von rechter Gewalt. Die Statistiken der Vorjahre sehen ähnlich aus.

»Das ist ein Problem, das wir oft angesprochen haben, aber es wurde immer relativiert, beschwichtigt«, sagt Medina Yilmaz. »Dann hast du dieses Video und du wirst mit der Angst, die du in dir trägst, wieder konfrontiert.« Schon häufiger hat sie abends migrantische Mitarbeiterinnen aus ihrem Restaurant mit dem Auto in die äußeren Stadtteile gebracht, statt sie mit der Bahn fahren zu lassen. Sie hätten ihre Sorgen für übertrieben gehalten und nicht ernst genommen, erzählt Medina Yilmaz. »Sie haben immer gelacht, aber nach dem Video haben sie gesagt: Du hast recht.«

Dass migrantische Menschen sich vor allem nachts in Thüringen unsicher fühlen, kann Christin Fiedler, Beraterin bei ezra, verstehen. »Der Angriff in der Straßenbahn war nicht der einzige oder erste Fall in der Öffentlichkeit«, sagt sie. Allein im vergangenen Jahr wurde beispielsweise einem Mann in einem Bus in Suhl nach rassistischen Beleidigungen mehrmals eine Bierflasche an den Kopf geschlagen; in Gera wurde eine schwangere Frau von Rechtsextremen angegriffen und in Erfurt ein Mann an einer Straßenbahnhaltestelle verprügelt. Alles Vorfälle in der Öffentlichkeit, die vor den Augen anderer Menschen geschehen sind.

Die Ausnahme sei laut Fiedler bei dem aktuellen Fall vielmehr, dass es ein Video von der Tat gebe, was für einen breiten öffentlichen Aufschrei gesorgt habe und auch Konsequenzen für den Täter nach sich ziehe. Denn mithilfe des Videos konnte der Täter nach dem Angriff in der Straßenbahn identifiziert werden. Er ist zumindest vorübergehend in Haft und wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Medien, Zivilgesellschaft und Politiker*innen verurteilten die Tat scharf. Oft sei das in ähnlichen Fällen allerdings anders. »Wir sehen, dass sich viele rechte Täter bei solchen Übergriffen in der Öffentlichkeit offensichtlich sicher fühlen und sich keine Gedanken um die Konsequenzen machen«, sagt Fiedler. Als Beispiel führt sie dafür einen Angriff vor der Thüringer Staatskanzlei im Juli 2020 an. In einem von Kameras überwachten Bereich hatten Angreifer aus dem rechtsextremen Spektrum eine Gruppe friedlich Feiernder angegriffen und auf sie eingeprügelt.

Ein weiteres Problem ist die rechtliche Aufarbeitung nach solchen Angriffen: »Viel zu oft werden Verfahren nach einer Anzeige verschleppt oder eingestellt«, erklärt Fiedler. Auch dafür gibt es zwar ein viel beachtetes, aber unrühmliches Beispiel: den Fall Ballstädt. Im Februar 2014 hatten dort Neonazis auf einer Kirmes mehrere Menschen schwer verletzt. Bis heute warten die Betroffenen auf ein rechtskräftiges Urteil gegen die Täter*innen. »Oft wird auch das rechte Tatmotiv nicht untersucht oder festgestellt.« Das sei aber wichtig, um die Dimension rechter Gewalt zu zeigen und die Brutalität der Übergriffe zu erklären, sagt Fiedler. Außerdem könne ein rechtes Motiv strafverstärkend wirken.

Auch Eddie, ein 27-jähriger Student und eine Person of Colour (PoC), der seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen will, erzählt von seinen Erfahrungen mit rechter Gewalt. Das habe früh angefangen. Er ist am Erfurter Herrenberg aufgewachsen, einem Stadtteil, der seit Jahren als Brennpunkt und Anlaufstelle der rechten Szene gilt. Als Achtjähriger habe er seinen Vater zu Hause »blutüberströmt« vorgefunden, nachdem er von einem Neonazi attackiert wurde.

Noch mehr verbreitet, aber weniger gut dokumentiert als rechte Gewalttaten, ist in der thüringischen Hauptstadt der alltägliche Rassismus. Eddie kann aus fast jedem Lebensabschnitt eine Szene schildern, in der er Opfer von Rassismus wurde: Bereits in der Grundschule habe er beleidigende Bemerkungen gehört, unter anderem von seiner damaligen Lehrerin. Auch jetzt sei die Situation nicht viel besser. Als er vor einiger Zeit mit seiner weißen Freundin am Erfurter Hauptbahnhof stand, um gemütlich ein Bier zu trinken, kam ein Polizist und fragte seine Freundin, ob alles gut sei. »Da bekommt man schon öfter das Gefühl, nicht zur Gesellschaft dazuzugehören«, meint Eddie.

Mit solchen Erfahrungen ist er nicht allein. »Ich bin mir sicher, jeder, der ausländisch aussieht, hat schon so etwas erlebt«, erzählt Aboudi, ein geflüchteter Mann, der seit einigen Jahren in Erfurt lebt. Böse Blicke oder ein »Scheiß Ausländer« gehören seiner Ansicht nach für migrantische oder migrantisch gelesene Menschen in Erfurt zum Alltag. Das bestätigt auch Chanesse Lattimore. Sie ist eine PoC, trägt schwarz-grau-lila gefärbte Haare und auffällige Piercings. Mit ihrem Mann und ihrem vierjährigen Sohn wohnt sie in Gotha und kommt regelmäßig nach Erfurt, vor der Pandemie vor allem zum Feiern.

Eine Freundin zeigte ihr das Video aus der Straßenbahn. Seitdem hat Chanesse Lattimore Angst, Bus zu fahren. Auch sie hat schon »viel zu viele« rassistische Erfahrungen gemacht. In ihrer Kindheit in Franken malten Mitschüler*innen Hakenkreuze an die Tafel und sagten, man solle sie vergasen. In Erfurt seien es vor allem Blicke auf der Straße, besonders wenn sie mit ihrem weißen Mann und ihrem weißen Kind unterwegs ist. »Man bekommt das Gefühl: Du bist anders oder du darfst nicht so aussehen, wie du aussiehst.« Richtig bedroht gefühlt hat sie sich in Erfurt besonders einmal. Damals war sie schwanger und mit ihrem Mann in einer Tiefgarage unterwegs, als sie von einer Gruppe Neonazis bemerkt wurde. »Die haben mich ausgelacht. Wahrscheinlich, weil sie gemerkt haben, dass ich Angst habe.«

Vorfälle, wie sie Eddie, Aboudi oder Chanesse Lattimore fast alltäglich erleben, sind oft nicht strafrechtlich relevant. Sie können jedoch die Betroffenen psychisch schwer belasten - zum Teil über Jahre. »Gewalterlebnisse sind nur die Spitze des Eisbergs«, sagt Christin Fiedler von ezra. Welche Dimension dieser Alltagsrassismus in Erfurt hat, ist statistisch noch gar nicht erfasst: »Eine Antidiskriminierungsstelle, die das dokumentieren könnte, ist in Thüringen erst im Aufbau«, erklärt sie.

Auch die Dolmetscherin und Aktivistin Medina Yilmaz ist in Erfurt schon Opfer von Anfeindungen geworden. Als sie eines Nachts die Polizei rief, weil die Nachbar*innen zu laut waren, konnte sie auf den Lippen eines der Beamten ein stummes »Scheiß Ausländerin« ablesen. Den Fall habe sie zur Diskriminierungsstelle der Polizei gebracht, wegen mangelnder Beweise wurde er aber nicht weiter verfolgt. Insgesamt, betont Medina Yilmaz aber nachdrücklich, habe sie auch viele positive Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Sie hält aber fest, dass sich die Fälle rassistischer Anfeindungen und Gewalt in den letzten Jahren häuften, was sie auf die immer stärker werdenden rechten Kräfte in den Parlamenten zurückführt. »Ich will nicht, dass mich eine Angst begleitet, die die Mehrheitsgesellschaft nicht hat.«

Auch wenn rechte Gewalt und Rassismus in Thüringens Landeshauptstadt nach wie vor ein großes Problem sind, hat Christin Fiedler noch nicht resigniert. »Es gibt inzwischen sehr gute zivilgesellschaftliche Strukturen«, sagt sie. Außerdem zeige schon die Tatsache, dass Institutionen wie ezra und die Mobile Opferberatungsstelle Thüringen regelmäßig von der rot-rot-grünen Landesregierung unterstützt werden, dass das Thema auf der politischen Agenda stehe.

Chanesse Lattimore zeichnet dagegen ein weniger optimistisches Bild: Rund eine Stunde redet sie über ihre Erfahrungen, es fallen ihr immer wieder neue Vorfälle ein, bei denen sie Rassismus erlebt hat - etwa rassistisch-sexistische Anmachsprüche im Klub und Hasskommentare im Internet. Was alle für die Betroffene gemeinsam haben: »Man fühlt sich schlecht. Immer.« Offen über ihre Erfahrungen und Gefühle zu sprechen tut ihr gut. »Ich würde mir wünschen, dass mehr Leute dagegen aufstehen«, sagt sie. »Wir müssen da endlich mal alle aufwachen.«

Nach dem Vorfall in der Straßenbahn verurteilte auch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei die Tat scharf - auch wenn das dem Opfer nicht direkt hilft, freut sich Christin Fiedler über diese und alle anderen Solidaritätsbekundungen nach der Attacke. Viele Menschen und zivilgesellschaftliche Organisationen hatten nach dem Angriff dem jungen Mann ihre Unterstützung zugesagt. »Bei Übergriffen gibt es eine primäre und danach oft auch noch eine sekundäre Opferwerdung«, erklärt sie. Die primäre finde im Moment des Angriffs statt, die sekundäre, wenn danach eine Täter-Opfer-Umkehr erfolge. Also wenn beispielsweise öffentlich diskutiert wird, ob ein Opfer nicht provoziert hat oder in der medialen Debatte gefragt wird, warum sich die betroffene Person nicht gewehrt hat. »Zumindest das bleibt dem Mann in diesem Fall erspart«, sagt Christin Fiedler.

Medina Yilmaz will nach dem Angriff in der Straßenbahn mehr tun, als nur ihre Solidarität auszudrücken. Deshalb hat sie einen Spendenaufruf gestartet; ungefähr 5600 Euro sind schon gesammelt worden. Zusammen mit anderen Spendenaktionen seien es um die 20 000 Euro. Das Erlebte vergessen machen kann dieses Geld zwar nicht. Aber nach dem Überfall soll der Mann zumindest finanziell eine gesicherte Zukunft haben. Yilmaz hofft: »So kann man vielleicht andere Dinge, die auf seinen Schultern lasten, verringern.«

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